KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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ZeitdokumentKulturation 2/2004
Archiv der KulturInitiative'89
"Kulturpolitische Gesellschaft der DDR" - Gründungsaufruf / erste Vorstellung von Arbeitsschritten
KulturInitiative’89 Historisches Dokument Nr. 4


"Kulturpolitische Gesellschaft der DDR" - Gründungsaufruf / erste Vorstellung von Arbeitsschritten
(Entwurf von Helmut Hanke)

Die Unterzeichner rufen zur Gründung einer "Kulturpolitischen Gesellschaft der DDR" auf. Sie bekennen sich zur demokratischen Erneuerung der Gesellschaft, zu radikalen Veränderungen in Politik, Wirtschaft und Kultur. Zu seiner Gesundung braucht der erkrankte soziale Organismus eine Reform an Haupt und Gliedern; auch in der Kultur muß Ballast abgeworfen, müssen Strukturen beseitigt werden, die seit Jahrzehnten die freie Entwicklung des menschlichen Geistes, der schöpferischen Fähigkeiten des Volkes, der Begabungen und Talente jedes einzelnen Menschen behindern und verhindern. Die Fortsetzung des sozialistischen Experiments auf deutschem Boden unter völlig veränderten Bedingungen und mit grundlegend neuen Zielsetzungen ist ein Gebot der Vernunft. Nur durch solidarisches Handeln aller Menschen und ein neues Verhältnis zur Natur kann die Menschheit überleben, können die verschiedenen Regionen des Planeten Heimat gleichberechtigter Völker und Nationen sein.

In der DDR wird der erneuerte Sozialismus eine solidarische, produktive Gesellschaft freier Menschen, eine alternative Zivilisation und Kultur sein - oder er wird nicht sein. Die Nutzung aller Errungenschaften und Leistungen des bürgerlichen Zeitalters, der modernen Ökonomie, Technik und Wissenschaft ist Voraussetzung für sozialen und kulturellen Fortschritt im Interesse aller. Kultur wird in dieser Gesellschaft nicht das fünfte Rad am Wagen, sondern die grundlegende Erkenntnisfunktion und Entwicklungsform der Gesellschaft sein. Wir sind überzeugt, daß diese Kultur Raum bietet für alle progressiven politischen Bewegungen und geistigen Strömungen: von der marxistischen Linken bis zu national-konservativen Gesinnungen. Ausgeschlossen von unserer Vereinigung sollen Rechte aller Couleurs und Verfechter des alten, überlebten Sozialismuskonstrukts und seiner bildungszentrierten und deformierten Kultur sein. Willkommen sind alle, die an der demokratischen Erneuerung unserer Gesellschaft und ihrer Kultur interessiert sind, die sich aus humanistischen, christlichen oder sozialistischen Idealen für eine deutsche demokratische Republik in einem europäischen Haus einsetzen.

Die "Kulturpolitische Gesellschaft der DDR" wird durch Ideen und Vorschläge, Analysen und Experimente, Diskurs und Meinungsstreit zur Ausarbeitung einer neuen kulturellen Strategie in unserem Lande beitragen. Kultur für alle und durch alle soll unser Arbeitsprinzip sein. Folgende Arbeitsgebiete schlagen wir zunächst vor:

1. Kultur als strategische Dimension und demokratische Angelegenheit. Verständigung über Weg und Ziel kultureller Entwicklung, Entwürfe für eine neue Kulturpolitik, für ein wissenschaftlich fundiertes und international orientiertes Kulturverständnis.

2. Erneuerung des geistigen Lebens, Aufnahme und Verarbeitung von Erfahrungen des demokratischen Aufbruchs und des öffentlichen Dialogs. Kritik der alten Kulturverhältnisse und ihrer deformierenden sozialen und individuellen Folgen. Entwurf einer diskursiven, dialogfähigen Kultur.

3. Orientierung auf die wissenschaftlich-technische Revolution, Überwindung der Existenz- und Entwicklungsformen frühkapitalistischer Industriekultur in der DDR. Für eine neue Kultur der Arbeit in Industrie, Landwirtschaft und Infrastruktur.

4. Ökologische Umgestaltung von Produktions- und Lebensweise. Ein "Öko-Sozialismus" neuer Art als produktive Alternative zur kapitalistischen Leistungs- und Konsumgesellschaft. Umweltbewußtsein als strategisches Denken und Massenbewußtsein. In diesem Zusammenhang müssen auch Fragen einer vernünftigen Konsumtion diskutiert werden.

5. Erhaltung und Erneuerung der gebauten Umwelt, Programme und Entwürfe zur Rettung der Groß-, Mittel- und Kleinstädte der DDR. Wiedergeburt von Architektur und Landschaftsgestaltung. Orientierung auf kulturhistorisch wertvolle Besonderheiten in Städten und Regionen, Konzepte für großstädtische Kultur und Dorfkultur.

6. Kulturelle Kommunikation und Medien. Veränderungen in der Medienkultur im Prozeß der Umgestaltung. Spezifik sozialistischer Medienkultur. Dynamik der Internationalisierung in den Botschaften und der Sprache der Medien. Medien und Alltag von sozialen und kulturellen Gruppen. Neue Medien in Arbeit und Freizeit.

7. Vereine und Verbände im gesellschaftlichen und kulturellen Leben der DDR. Selbstorganisation der Gesellschaft nach sozialen Interessen und kulturellen Bedürfnissen. Umgestaltung bestehender Organisationen (z.B. Kulturbund), Auflösung überlebter und Bildung neuer Verbände und Vereine. Traditionen von Vereinskultur.

8. Frauenbewegung und Frauenkultur. Soziale Lage und kulturelle Situation der Frauen in der DDR. Bestehende Organisationen, deren Perspektive. Politische und kulturelle Interessenvertretungen der Frauen. Internationale Erfahrungen der Frauenbewegung. Konzepte für eine öffentliche Frauenkultur.

9. Erziehung und Bildung zu einem neuen Kulturverständnis. Reform des Bildungswesens, neue Zielsetzungen: Ausbildung von Fachleuten mit einem berufsbezogenen und auf allgemeine Interessen orientierten Ethos. Überwindung des Schulsystems und Zirkelwesens in der "Erwachsenenbildung". Neubestimmung der Rolle des Marxismus in der Gesellschaft.

10. Die Künste im System der kulturellen Kommunikation. Traditionen künstlerischer Kultur, Folgen ihrer Institutionalisierung. Verhältnis von Avantgarde und Massenkultur in den Künsten. Perspektive der Künste in einem dynamischen, internationalistisch orientierten Kulturprozeß. Veränderungen in Produktion, Verbreitung und Gebrauch der Künste.

11. Umgestaltung des Systems kultureller Einrichtungen und Institutionen. Überwindung der vorrangigen Orientierung auf bürokratisch kontrolliertes "Kulturangebot" und "Volkskunst". Nichtmediale Massenkultur vor allem als kommunale Kultur ausbilden und verstehen. Neue Erfahrungen einer bürgernahen Kulturpolitik.

12. Nationales Erbe und sozialistische Traditionen unserer Kultur. Renaissance der demokratischen, humanistischen und sozialistischen Traditionen der DDR. Vorschläge für kulturelle Identität im Anschluß an west- und osteuropäische Kultur. Bausteine zu einem regional spezifischen Kulturkonzept der DDR.

13. Arbeiterklasse und Intelligenz in der Kultur. Klassenkultur als Kern sozialistischer Massenkultur. Kulturelle Funktionen der Intelligenz. Selbstbestimmung ihrer Interessen. Kulturarbeit der Intelligenz und für die Intelligenz. Soziale und kulturelle Schichtungen der Bedürfnisse und Interessen.

14. Kulturwissenschaft und Kulturarbeit. Traditionen und Perspektiven der Kultur-, Kunst- und Medienwissenschaften in der DDR. Entwicklung von Kulturgeschichte und Kultursoziologie. Verhältnis zur Philosophie und Psychologie. Kulturwissenschaft und Kulturpolitik. Aus- und Weiterbildung in Kulturpolitik und Kulturpraxis.

Auf diesen Gebieten will die "Kulturpolitische Gesellschaft der DDR" arbeiten und das Ihre zur kulturellen Erneuerung beitragen. Mitglied der Gesellschaft kann jeder werden, der auf einem der angesprochenen Arbeitsgebiete praktisch oder geistig tätig ist oder sich neben seiner beruflichen Tätigkeit vor allem für Kultur in einem weiten, demokratischen Sinne interessiert.

Geschrieben am 12. 11. 89 von Helmut Hanke
(aus der Handschrift am 13. 11. 89 von Dietrich Mühlberg getreulich übertragen)