KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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ZeitdokumentKulturation 2/2004
Archiv der KulturInitiative’89
"Kulturpolitische Gesellschaft der DDR"
Zu unseren Zielen
(Entwurf November 1989)
KulturInitiative’89
Historisches Dokument Nr. 2

"Kulturpolitische Gesellschaft der DDR"
Zu unseren Zielen
(Entwurf November 1989)

1. Wir verstehen die Ausbildung einer demokratischen Kultur als das oberste Ziel aller gesellschaftlichen Anstrengungen. Kultur muß die strategische Dimension aller Politik sein und darum zur demokratischen Angelegenheit werden: an der Verständigung über Weg und Ziel kultureller Entwicklung müssen alle teilnehmen können. Wir wollen darum die Erfahrungen des demokratischen Aufbruchs und des öffentlichen Dialogs übernehmen.

2. Wir wenden uns gegen das lange wirksame Dogma einer einheitlichen sozialistischen Kultur und treten ein für die kulturelle Identität aller im Lande lebenden ethnischen, sozialen, professionellen, regionalen usw. Gruppen. Gerade in der kulturellen Vielfalt besteht die kreative Potenz unserer Gesellschaft.

3. Verstaatlichung (Durchstaatlichung) ist das Haupthindernis demokratischer Kulturentwicklung. Der Staat muß sich darauf beschränken, die "kulturelle Grundversorgung" zu sichern, darf darüber hinaus nicht in das kulturelle Leben eingreifen. "Ideologische Führung" der Kultur ist durch Sicherung ihrer Infrastruktur abzulösen.

4. Die vernachlässigte Arbeiterkultur muß endlich ideell und materiell gefördert werden. Selbstdarstellungen von Partei-, Gewerkschafts- und Staatsapparat dürfen nicht mehr als Arbeiterkultur ausgegeben werden.

5. Gleichermaßen fordern wir neue Entwicklungsmöglichkeiten für Frauen ein. In der realen Zweitrangigkeit aller Frauen (diese Gruppe ist größer als die der Arbeiter) besteht der größte kulturelle Rückstand unserer Gesellschaft.

6. Wir brauchen ein neues Konzept von der Kultur einer wissenschaftlich geprägten industriellen Arbeit. Das vorrangig konsumorientierte Leistungsprinzip muß auf alle Seiten der Lebensqualität ausgedehnt werden.Wir wollen die ökologische Alternative zur heute überwiegenden Idee der Naturbeherrschung finden.

7. Der kulturelle Niedergang der Städte und Gemeinden ist zu stoppen und umzukehren. Wir wollen dem allgemeinen baulichen Verfall, dem Schwund kultureller Einrichtungen und der Verödung der Öffentlichkeit entgegenwirken.

8. Neben den Kommunen müssen die Vereine als die historisch gewachsenen Kulturformen anerkannt werden. Sie sind die wichtigsten Träger des Kulturlebens.

9. Wir treten ein für die Erhaltung der natürlichen und der gebauten Umwelt, gleich, ob sie kulturhistorisch wertvoll oder einfach nützlich ist. Über die Erhaltung hinaus brauchen wir begründete Vorstellungen über den Ausbau der kulturellen Infrastruktur des Landes.

10. Bei Wahrung ihrer Eigenverantwortung sollen alle überregionalen Medien der öffentlich-rechtlichen Kontrolle unterliegen. Dringend müssen Konzepte erarbeitet werden, die dem wachsenden Einfluß und der schnellen technischen Entwicklung neuer Medien angemessen sind.

11. Die politische, ökonomische und rechtliche Freiheit von Wissenschaft und Kunst ist Voraussetzung für die Verhinderung kultureller Stagnation.

12. Das Bildungssystem soll auch weiterhin gleiche Bildungschancen für alle garantieren, darf dies aber nicht auf reduziertem Niveau und ohne Achtung individueller Anlagen durchsetzen. Die Einbindung des Bildungssystems in das geistige Leben der Gesellschaft (Wissenschaften, Philosophie, Künste, Religionen) könnte ermöglichen, daß die unterschiedlichen Begabungen angeregt und sozial produktiv gemacht werden.

13. Wir wenden uns gegen die naive Vorstellung, daß es möglich sei, eine sozialistische Nationalkultur planmäßig zu schaffen. Wir verstehen die über viele geschichtliche Etappen und Generationen entstandenen alternativen kulturellen Elemente als wichtige - wenn auch noch nicht hegemoniale - Tendenz deutscher Kultur. Die politische Zukunft der DDR wird darüber entscheiden, welchen Einfluß diese zweite deutsche Kultur haben wird.