KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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TextKulturation 1/2008
Tagungsprotokoll
Zu Historie und Aktualität einer neuen Disziplin
45 Jahre Kulturwissenschaft in Berlin – Teil 1
Text Kulturwissenschaft als pdf
Unter dem langen Titel "Kulturwissenschaft - ein neuer Studiengang - Versuch einer Standortbestimmung nach 44 Jahren Kulturwissenschaft in Berlin" fand am 12. und 13. Oktober 2007 eine Tagung statt, zu der Absolventen und an ihrer Ausbildung beteiligte Wissenschaftler eingeladen waren.

PDF ===> Text Kulturwissenschaft als pdf

In den Beiträgen wurde die frühe Begründung eines neuartigen Studienganges in der DDR (1963) zum Anlass genommen, die damit verbundenen Erwartungen an die kulturell-praktische Wirksamkeit und an die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit historisch-kritisch zu beleuchten. Die bewegte Geschichte der Disziplin wie des Studienganges wurde als Teil der DDR-Kulturgeschichte bis in die Gegenwart verfolgt und gefragt, welche Anregungen für die aktuelle kulturelle Situation und Kulturpolitik in den geschichtlichen Befunden enthalten sind.

 Saal 1
Kulturhaus Mitte, Blick in den Saal (Foto: Scheel)


Im ersten Teil der Tagung haben 12 Kulturwissenschaftler – Angehörige verschiedenen Generationen - ihr Verhältnis zu Geschichte und Gegenwart ihres Faches dargelegt.

Dietrich Mühlberg
Warum es lohnt, auf die Geschichte des Studienganges Kulturwissenschaft zurückzublicken

Norbert Krenzlin
Die Geburt der Kulturwissenschaft aus Philosophie und Ästhetik

Günter Mayer
Ästhetik in der kulturwissenschaftlichen Ausbildung

Irene Dölling
Kultur(theorie) und Individuum

Wolfgang Jacobeit
Volkskunde und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität

Hildegard Maria Nickel
Kulturwissenschaft als Soziologie. Oder: Soziologie als Kulturwissenschaft

Kaspar Maase
Die Entdeckung der Popular- und Massenkultur durch die Kulturwissenschaft

Susanne Binas-Preisendörfer
Kulturwissenschaft und Kulturpolitik

Bernd Lindner
Gesellschaft(en) hinterfragen - Kultursoziologie im Kontext zweier Systeme

Günter Kracht
Kulturwissenschaft als Wissenschaft der modernen Gesellschaft - Thesen

Jörg Petruschat
Wie ich von der Kulturwissenschaft zur Gestaltung kommen konnte

Eckehard Binas
Die leere Mitte, Kommentar zu einem Konzeptlebenszyklus



 Vortrag
Dietrich Muehlberg (Foto: Scheel)

Dietrich Mühlberg

Warum auf 44 Jahre Kulturwissenschaft zurückblicken?



1. Begrüßung

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde, liebe kulturwissenschaftlich Betroffene und Interessierte …

… auch ich begrüße sie hier im Namen der KulturInitiative'89 zu einer Veranstaltung, mit der wir den Versuch machen, eine (kultur)wissenschaftliche Tagung mit einem Treffen von über dreißig Absolventenjahrgängen der Fachrichtung Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu verbinden. Das könnte inhaltlich gelingen, haben sich doch Wissenschaft und Lehre auch nur in enger Wechselwirkung entwickeln können. Formell und kameralistisch sind das aber zwei verschiedene Unternehmungen. Während es für die wissenschaftliche Tagung finanzielle Unterstützung mit Lottomitteln durch das politische Bildungsunternehmen „Helle Panke“ gibt, musste die KulturInitiative'89 alle ihre personellen und finanziellen Kräfte konzentrieren, um ein solch ungewöhnliches Absolvententreffen möglich zu machen. Was freilich ohne das Kulturhaus Mitte, mit dem wir seit unserer Gründung eng verbunden sind, auch nicht gelungen wäre. Und wenn schon von den Unterstützern die Rede ist, so wäre da auch für einige kleine und größere Spenden zu danken – voran (wie immer) der Firma Rohnstock Biografien, also Katrin und ihren Mitarbeitern.


2. Ãœber Motive

Gestatten Sie mir, dass ich zunächst etwas zu den Motiven sage, die die Mitglieder eines Kulturvereins dazu bewogen haben, sich dem kulturwissenschaftlichen Curriculum der Humboldt-Universität forschend zuzuwenden. Das eine Motiv ist in der Geschichte der KulturInitiative'89 selbst zu finden, die, unschwer ist das zu erkennen, im Jahre 1989, genau am 7. November, eigentlich verspätet, als „Gesellschaft für demokratische Kultur“ gegründet worden ist. „Verspätet“ meint, dass es seit Beginn der 80er Jahre die Absicht gab, auf irgendeine Weise einen Berufsverband der DDR-Kulturwissenschaftler (in gewisser Analogie zu den Künstlerverbänden) zu gründen, um die vielfältigen internen Kommunikationen zu bündeln, aber auch, um die Positionen der Absolventen in Statusfragen, in Weiterbildung, Informationszugang, Reisemöglichkeiten usw. zu stärken. Dass es lange nicht dazu kam, das lag auch am nicht vorhandenen Vereinsrecht der DDR. Jedenfalls waren wir die ersten, die beim Kulturminister einen ordentlichen Antrag gestellt haben und dann auch eine positive Antwort erhielten. Während das kleine Gründungskomitee ausnahmslos aus Kulturwissenschaftlern bestand, waren wir schon nach wenigen Tagen ein West-Ost-Unternehmen, das am 22. Dezember die erste große deutsch-deutsche Kulturdebatte in der Akademie der Künste organisierte – die legendäre „Zwischenrede“. Kurze Zeit sah es so aus, als könnte daraus die „Kulturpolitische Gesellschaft“ der Ostdeutschen entstehen, doch mit den Jahren waren wir dann wieder zu einem Kommunikationsort vor allem ostdeutscher Kulturwissenschaftler und ihrer alten Westberliner Freunde geworden. Wir waren über die Jahre eifrig dabei, mit Tagungen und Vortragsreihen die kulturpolitische Debatte hier in der Stadt zu beleben, die MKF, die „Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung“ (und einige Zeit auch die „Weimarer Beiträge“) weiter herauszugeben und sie schließlich aus finanziellen Gründen in das Internetjournal „www.kulturation.de“ zu überführen – zusammen gerechnet haben wir da mit der Ausgabe 2/2007 den 30. Jahrgang erreicht. Ich erwähne das auch, weil wir die Ergebnisse dieser Tagung dort publizieren werden, wie wir das – für jeden nachlesbar – mit den vorangegangenen Tagungen auch gemacht haben.

Bei der Auswertung unserer Veranstaltungen, der Tätigkeit der Arbeitskreise wie der „normalen“ Jahresaktivitäten, kam im Verein immer wieder die Frage auf, warum wir uns denn nicht auch mit der eigenen Geschichte beschäftigen, wann wir denn endlich die Mittel haben, das dazu inzwischen aufgehäufte Material – vor allem an zeithistorischen Interviews – auszuwerten. Ein guter Anlass wäre der 40. Jahrestag der Eröffnung der Studienrichtung Kulturwissenschaft gewesen. Das haben wir 2003 verpasst. Nun könnte man auf den 50. Jahrestag hinarbeiten, doch dabei müsste bedacht werden, dass die Zeitzeugen, die Hüter der Erinnerung und auch der Dokumente, langsam knapp werden. Man könnte die Sache auch der Humboldt-Universität überlassen, die eifrig dabei ist, ihren 200. Gründungstag vorzubereiten. Doch da sind starke Bedenken angebracht. Das Konzept, nachdem die Zeit zwischen 1945 und 1990 dargestellt werden soll, lässt eine historisch-kritische Würdigung der universitären Leistungen dieser Zeit als wenig wahrscheinlich erscheinen. Vor allem aber könnten bald die dafür entscheidenden Protagonisten fehlen, denn bis dahin könnte es dem ersten deutschen kulturwissenschaftlichen Institut genau so ergangen sein, wie es dem ersten deutschen theaterwissenschaftlichen Institut bereits geschehen ist – es gibt es nicht mehr.

Das wird nicht nur der institutionellen Lustlosigkeit der nur auf Zeit agierenden Hochschullehrer geschuldet sein, die sich als Geisteswissenschaftler verstehen. Und gerade deren Disziplinen geht es nicht besonders gut. Wie Sie sicher wissen, haben wir gerade das „Jahr der Geisteswissenschaften“ und es wird auf Tagungen und öffentlich gefragt, welchen Sinn es denn mache, sie weiter zu alimentieren. Sie stehen unter Legitimationsdruck, auch weil einfach zu viele arbeitsuchende Geisteswissenschaftler vorhanden sind, zu denen auch die Kuwis heute gezählt werden. Der Markt braucht sie nicht, jedenfalls nicht so viele. Und es war bezeichnend, dass die Tagung „Kultur als Arbeitsfeld und Arbeitsmarkt für Geisteswissenschaftler“, die der verdienstvolle Deutsche Kulturrat zusammen mit der evangelischen Kirche vor 14 Tagen veranstaltet hat, mit dem Appell endete, einen Mindestlohn für Kuwis zu fordern, weil in etlichen Fällen nicht mehr als 600 Euro zu verdienen sind.

Ich erinnere daran, dass vor siebzehn Jahren schon einmal über die Krise der Geisteswissenschaften debattiert worden ist, warum sie denn noch gebraucht werden und an den Universitäten nicht gestutzt werden dürften. Ich erinnere daran, dass an der 1990 veröffentlichten Denkschrift „Geisteswissenschaften heute“ im Auftrag des damaligen Bundesministeriums für Forschung und Technologie neben Wolfgang Frühwald (damals Mitglied des Wissenschaftsrates und als Literaturwissenschaftler Präsident der DFG!) auch der Philosoph Jürgen Mittelstraß mitgearbeitet hat, der sich dafür hier am Orte auch umfänglich über unsere Arbeit informiert hat. Damals empfahlen die Autoren, den aus humanistischer Tradition stammenden (urdeutschen) Begriff der Geisteswissenschaften fallen zu lassen und ihn durch den neuen, umfassenderen Titel der Kulturwissenschaften zu ersetzen.

[das geschah nicht. „Die Verwaltung riet uns, bei dem Begriff Geisteswissenschaft zu bleiben, um nicht aus den Statistiken der universitären Datenerhebung herauszufallen.“]

Inhaltlich sollten sie – so die Studie - Antworten auf globale Veränderungen innerhalb und außerhalb der Wissenschaft geben. Vor allem sollten sie der modernen Gesellschaft ein kulturelles Gedächtnis verschaffen und sie so vor drohender Geschichtslosigkeit bewahren. Ihr Nutzen für die Gesellschaft wurde darin gesehen, dass sie Kulturwissenschaften sind, dass sie in der Summe also Orientierungswissenschaften wären.

Das war ganz offensichtlich eine Reaktion auf die Lage nach dem Ende des europäischen sozialistischen Versuchs. Nun sollte Kulturwissenschaft die Orientierungs- und Sinngebungsinstitution mit wissenschaftlichem Anspruch sein. Das war insofern einleuchtend, als alle Arten von Sinngebung ja kulturelle Vereinbarungen, kulturelle Konventionen sind. Alle irgendwie begründeten allgemeinen Ziele bedürfen der Übereinkunft, um gesellschaftlich wirksam zu werden. Und diese „Übereinkunft“ ist ein kultureller Vorgang. Doch kann „die Kulturwissenschaft“ selbst solche Ziele generieren? Das wohl kaum. Und so hat sich in den siebzehn Jahren seit dem programmatischen Text der Denkschrift „Geisteswissenschaften heute“ die Lage dieser Wissenschaften eher zum Schlechten verändert und die Kulturwissenschaft selbst trat seitdem auch nicht mit überzeugenden Sachstandanalysen heutiger Kulturen hervor.

Aber kann damit begründet werden, dass Kulturwissenschaftler offenbar nicht gebraucht werden und überflüssiger Luxus sind? Meine lebenslange Erfahrung mit Ausbildungskonzepten und meine heutige Praxis als Kultursenator wie als Lehrender im Studiengang Kultur und Management der Dresdener Internationalen Universität sagen mir, dass Kulturwissenschaftler mit bestimmter Ausbildung und Motivation nicht nur wichtige Protagonisten des kulturellen Lebens sind, sondern dort auch dringend gebraucht werden. Dabei ist allerdings ein geisteswissenschaftliches Selbstverständnis keine besonders gute Empfehlung.

Ich sprach von „institutioneller Lustlosigkeit“ und wollte damit auf das Desinteresse am Weiterleben des kulturwissenschaftlichen Curriculums ausgerechnet bei denen hinweisen, die sich diesen Studiengang Anfang der 90er Jahre angeeignet haben. Es ist schon deswegen bemerkenswert, weil wir dessen Abwicklung durch den Berliner Senat 1991 durch eine internationale Protestaktion verhindert haben. Damals haben über 120 Berufskolleginnen aus sechs (westlichen) Ländern in Briefen und Telegrammen an die zuständige Senatorin auf die wissenschaftliche Bedeutung der ostdeutschen Kulturwissenschaft hingewiesen. Da bedurfte es dann schon einiger Tricks und Intrigen, deren Repräsentanten Dölling und Mühlberg dennoch rauszudrängen und die verbleibenden wissenschaftlichen Mitarbeiter nachhaltig auszugrenzen. Es ist darum nur konsequent, wenn Hartmut Böhme in dem (mit Peter Matussek und Lothar Müller abgefassten) Büchlein „Orientierung Kulturwissenschaft“ zehn Jahre später zwar richtig darauf hinweist, wie stark das Interesse an der Kulturwissenschaft in den letzten zwanzig Jahren gestiegen sei. Sich dann aber zu folgender Behauptung über diese Disziplin hinreißen läßt: „Es gibt sie als Studienfach, sieht man einmal von zwei weisungsgebundenen DDR-Instituten ab, erst seit Mitte der achtziger Jahre – und auch nur an einigen Universitäten. Keiner der derzeitigen Professoren für Kulturwissenschaft konnte diese also studiert haben. Das Fach musste ‚erfunden’ werden.“

Ich kenne eine ganze Reihe solcher Professoren und möchte hier nur festhalten, dass hinter diesen Sätzen eine in jeder Hinsicht vollständige Verdrängungsleistung steht. Ich möchte gar nicht danach fragen, wie nach 1993 die spezielle „Erfindung“ von Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität ausgefallen ist. Und will auch nicht darüber reden, wie diese Wissenschafts-Erfinder mit den verbliebenen Professorinnen der Ästhetik und den übrigen Ostkollegen (fast alles habilitierte Kulturwissenschaftler) denn bei ihrem konstruktiven Tun umgegangen sind. Über diesen Umgang zu sprechen ist offenbar heikel, denn wir konnten keinen von ihnen bewegen, sich dazu hier zu äußern.


3. „Es gibt zu denken“: die Bindung an einen anderen Gesellschaftstyp

Ich will nun weder den Gekränkten noch den Empörten spielen, diese Wendung der Dinge liegt lange hinter uns. Und es gibt einem selbstverständlich zu denken, wenn mehr oder weniger prominente Fachkollegen aus dem Westen, nicht nur die eigenen, an durchaus prominenter Stelle erschienenen Publikationen zur Entwicklung der Kulturwissenschaft ignorieren, sondern gleich das ganze vor 44 Jahren gestartete Projekt für ein verfehltes Unterfangen halten, auf das man besser nicht zurückblickt, sondern es mit einem abwertenden Nebensatz erledigt.

„Es gibt zu denken“ meint, dass da auch selbstkritisch zu prüfen ist, ob der internationale Wissenschaftlerprotest nicht doch ein Irrtum war und die Studienrichtung Kulturwissenschaft - wie es in Leipzig ja geschah - hätte abgewickelt werden müssen, weil sie – so etwas zugespitzt die Begründung – mit doktrinären Theoremen nichts anderes als treuliche Vollstrecker einer repressiven Kunstpolitik der SED ausgebildet habe.

Solch Vorwurf ließe sich mit manchen Fakten untermauern, bliebe aber dennoch etwas plump, weil er der komplizierten Situation nicht annähernd gerecht würde. Besser sollte von der Tatsache ausgegangen werden, dass „wir“ – wie alle anderen gesellschaftlich relevanten Disziplinen auch – für einen anderen Typ von Gesellschaft ausgebildet haben. Dieser Typus ist unter Experten strittig, die mehrheitlich auf die politische Verfassung dieser zentral geplanten und gelenkten Gesellschaft verweisen. Das macht ja auch Hartmut Böhme, wenn er von „weisungsgebundenen“ Instituten spricht, an denen offenbar das selbständige Denken und Entscheiden unmöglich war. Das klingt zwar nach billigem Polit-Talk, trifft aber einen wesentlichen Punkt. Denn weder die Wissenschaften noch die Künste wurden in der DDR vom politischen Machtsystem als autonome Sphären und überlebensnotwendiges Korrektiv ihres Handelns begriffen. Sie wurden funktional aufgefasst und sollten Aufgaben erfüllen. Von solcherart Anmutungen sind die Kulturwissenschaftler heute tatsächlich frei, allerdings folgen sie mehrheitlich einem erstaunlich homogenen Bündel fester ideologischer Grundsätze.

Wie wir wissen und erfahren haben, konnte die Zuweisung von „gesellschaftlichen Aufgaben“ von den so Funktionalisierten damals durchaus positiv aufgenommen werden. Dies vor allem, weil diese neue politische Ordnung bei allen ihren Ungereimtheiten auch eine Alternative sein wollte, eine Antwort auf innere Widersprüche und Konflikte der kapitalistisch organisierten Gesellschaften. Nur darum war es möglich, große Erwartungen in einen Gesellschaftszustand zu projizieren, der nicht mehr durch die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse strukturiert ist.

Diese andere Gesellschaft - an deren Gründung ich (wie alle hier im Saal) altersbedingt gar nicht aktiv beteiligt sein konnte - war ihrer Idee nach tatsächlich attraktiv. Sie erschien mir (und anderen) als durchaus vernünftig und war auch für meine soziale Gesinnung und mentale Ausstattung akzeptabel. Auch der Gedanke einer „kulturellen Revolution“ war so abwegig nicht, denn was konnte kulturell anders werden, wenn der Reichtum nicht mehr in Kriegen verpulvert wird, innere Antagonismen aufgehoben sind, wenn soziale Unterschiede nivelliert und kulturelle Distanzen geringer werden, wenn sich das allgemeine Interesse vom Warenwert auf den Gebrauchswert verschiebt und sich das Geld in eine Art Bezugschein für das Benötigte verwandelt?

In der politischen Sphäre wurde diese Umwälzung etwas anders verstanden und deren Ziele auch anders formuliert. Aber auch dieses politisch-ideologische Selbstverständnis war veränderlich, zeigte Bewegung. Als dann das kulturwissenschaftliche Curriculum vor bald einem halben Jahrhundert gegründet wurde, hatte sich nach Stalins Tod und nach dem selbstkritischen Parteitag der sowjetischen Kommunisten eine Konferenz der osteuropäischen Parteien auf „allgemeine Gesetzmäßigkeiten“ beim Aufbau sozialistischer Gesellschaften geeinigt und darunter dann auch eine „Kulturrevolution“ genannt. Daran hatte sich auch die SED zu halten, stand aber vor dem (nicht ausgesprochenen) Problem, dass das Projekt „Kulturrevolution“ einst eine (später Lenin zugeschriebene) Idee von Leo Trotzki war, mit der er die Oktoberrevolution strategisch zu legitimieren versuchte. Die entwicklungsgeschichtliche Rückständigkeit Russlands – 90 Prozent der Bevölkerung bäuerliche Analphabeten – sollte durch Kultur- und Bildungsarbeit, durch Umerziehung, durch eine „Revolution auf dem Gebiet der Ideologie und Kultur“ überwunden werden. Was aber sollte im Industrieland DDR unter dieser „Kulturrevolution“ verstanden werden?

Auf diese verbindliche Programmatik reagierte die Sozialistische Einheitspartei als zentrale politische Kraft 1958 mit dem Beschluss, dass auch in der DDR eine sozialistische Kulturrevolution notwendig sei. Dies aber mit der hauptsächlichen Begründung, der "subjektive Faktor" - gemeint war die Befähigung der großenteils aus den Unterschichten aufgestiegenen neuen Funktionselite - sei gegenüber neuen Anforderungen an ihr „kulturelles Niveau“ zurückgeblieben. Dies auch praktisch zu ändern wäre die Aufgabe, die den unmittelbaren Anlass dafür bot, dass 1960 eine Kulturkonferenz des ZK der SED beschloss, dass zur „Ausbildung leitender Kulturfunktionäre ... die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen [sind]. Dazu gehören die Ausarbeitung eines Berufsbildes spezieller Bildungswege für Kulturfunktionäre, wie Fachschulbildung, Hochschulbildung und mit beiden Einrichtungen verbundenes Fernstudium“. Am 8. August 1962 hat dann das Sekretariat des ZK (als zentrales Machtorgan der SED) den Aufbau eines einheitlichen Qualifizierungssystems für Kulturfunktionäre beschlossen.

Kennern der politischen Geschichte ist bekannt, welche Rolle Alfred Kurella dabei gespielt hat, der von 1957 bis 1963 die Kulturkommission des Politbüros leitete und in dieser Funktion dem Politbüro auch als „Kandidat“ angehörte.

Die Kulturstrategen unter den Politikern verbanden mit dem Beschluss drei große Aufgaben.

Erstens die Hebung des „kulturellen Niveaus“ der werktätigen Massen. Als wichtigstes Mittel wurde damals die „kulturelle Massenarbeit“ angesehen, die vorzüglich als aktiver und rezeptiver Umgang mit den Künsten verstanden worden ist. Ein altes Ziel der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, deren Kulturfraktion überzeugt war, dass im Zukunftsstaat die Tempel der Künste allen offen stehen werden. Eine Idee, die in anderer Form fünfzehn Jahre später, nach der Überwindung der konservativ-elitären Adenauer-Ära, in der alten Bundesrepublik zum Credo der „Neuen Kulturpolitik“ wurde.

Zweitens sollte die durch Verdrängung und Abwanderung ausgedünnte Bildungsschicht nicht nur aufgefüllt werden, auch die kulturellen Defizite der aus den bildungsfernen Schichten massenhaft aufgestiegenen neuen Angehörigen der „Funktionseliten“ sollten schnell abgebaut werden (sie sollten die Höhen der Kultur er„stürmen“).

Und drittens schließlich sollte die „bürgerliche Ideologie“ in allen ihren Formen überwunden werden und ein neues Wertesystems (zentral ein „neues Menschenbild“) in der Gesellschaft etabliert und (durch Erziehung) befestigt werden.

Wenn es für die Gestaltung dieser so umfassender Aufgaben der Wissenschaft und der wissenschaftlich Ausgebildeten bedurfte, so zeigte der Blick auf die Universitäten, dass keine der nach traditionellem deutschen Kulturverständnis dafür präferierten kunstorientierten Disziplinen – Germanistik, Kunstgeschichte, Musik- und Theaterwissenschaft - so recht geeignet war, eine so grundsätzliche und zugleich heterogene Aufgabe zu bedienen. So entschied sich das zuständige Staatssekretariat für Hochschulwesen 1962, den Gründungsauftrag in Berlin an das Philosophische Institut zu geben, das seine Abteilung Ästhetik mit der Realisierung beauftragte. Und diese neue Studienrichtung sollte – in Abgrenzung von den Kunstwissenschaften nun „Kulturwissenschaft“ heißen.

Hier wurde also ein universitäres Curriculum “Kulturwissenschaft“ gegründet, ohne dass es irgendwo auf der Welt eine wissenschaftliche Disziplin gleichen Namens gab. Die politischen Väter (oder besser: die Veranlasser) dieser Gründung sind bekannt und haben sich dazu zwar grundsätzlich, aber dennoch sehr vage geäußert. Sie meinten, dass der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zugleich ein kultureller Umbruch wäre oder sein müsste. Und in deutsch-bildungsbürgerlichem Geiste waren sie davon überzeugt, dass dies sich wesentlich in einem veränderten Umgang mit den Künsten darstelle.

Nahm man diesen Auftrag ernst, so folgten daraus einige zu bewältigende „Lehraufgaben“. Einmal mussten gesellschaftstheoretische Erwägungen auf philosophischer Ebene angestellt werden: was ist Kultur, worin unterscheiden sich Kulturen, wovon hängen sie ab, wie sind sie zu beeinflussen usw. Dann musste wohl eine allgemeine Lehre von den Künsten und von der ästhetischen Aneignung der Welt vermittelt werden. Und schließlich konnten solche Lehren nur fruchten, wenn die Studierenden auch Gelegenheit bekamen, sich mit den Geheimnissen wenigstens einer Kunstgattung vertraut zu machen. Es war darum durchaus schlüssig, dass der Auftrag zur Neugründung an die kleine Abteilung Ästhetik eines Philosophischen Instituts gegeben wurde.

Diese Abteilung hat 1963 eine Gruppe von Fernstudenten immatrikuliert und zugleich einige kunstinteressierte Philosophiestudenten an sich gebunden. Sie haben – so Herbert Pietsch, Jutta Voigt, Karin und Heinz Hirdina – inzwischen schon das Rentenalter erreicht. Übrigens haben das auch einige der ersten regulären Studenten, die ein Jahr später immatrikuliert worden sind, die inzwischen legendären 64er.

Von hier an war „Kulturwissenschaft“ ein lebendiger Körper, ein Ensemble kooperierender und widerstreitender Menschen. Alle irgendwie auf das Glück der Vielen ausgerichtet und etliche auch mit dem Sendungsbewusstsein des Kulturbringers. Doch auch das gebrochen durch den skeptisch-relativierenden Blick des Kulturwissenschaftlers. Kaum einer von ihnen dürfte unter das Nietzsche-Worte gepasst haben, das er einst den Glücks- und Geichheitspredigern Benthams widmete: « Heil euch, brave Karrenschieber, Stets "je länger, desto lieber".

So sehr das heute verwundern mag, sorgte für diese innere Lebendigkeit des Studienbetrieb auf seine Weise auch das verbindliche (und vom Staatssekretariat bestätigte) Studienprogramm mit seinen drei, nur auf den ersten Blick gleichermaßen „stützenden“ Säulen

1. war das die Ästhetik (als allgemeine Kunsttheorie und als allgemeine Theorie der ästhetischen Kultur)

2. gehörte dazu die Kulturtheorie und

3. eine der großen Kunstwissenschaften als „Nebenfach“, zunächst also Germanistik, Theaterwissenschaft oder Kunstgeschichte. Für Klavierspieler war auch Musikwissenschaft möglich; später kamen andere Nebenfächer dazu, vor allem Volkskunde/Ethnologie, Geschichte und Soziologie.

Eine vierte Säule bildeten die Grundlagenfächer Philosophie und Politische Ökonomie, die dann das 1968 (?) eingeführte und nicht selbst verantwortete „Gesellschaftswissenschaftliche Grundlagenstudium“ ablösen sollte. Mit dessen leicht unterkomplexer Ausrichtung hatten aber Studierende wie Lehrende Probleme. Es konnte dann durchgesetzt werden, dass bei uns (in Kooperation mit „Fachphilosophen“ und Wirtschaftswissenschaftlern) wieder eine umfangreichere eigene gesellschaftswissenschaftliche Grundausbildung erfolgte. Einer ihrer Protagonisten hat sich inzwischen in die Stille der Provinz zurückgezogen: Walter Hofmann lebt heute in Bonn und lässt grüßen.

Die Debatten um das erste Ausbildungskonzept erwiesen sich – und das möchte ich ausdrücklich betonen – auch als Auslöser für das nun zu klärende Problem, wie denn wissenschaftlich mit „der Kultur“ umzugehen sei, wie denn eine – damals konnte sie gar nicht anders heißen –„marxistisch-leninistische Kulturtheorie“ zu begründen sei.


4. Anfänge der Kulturwissenschaft als Disziplin – erste Phase

Terminologisch haben wir es seit dieser Zeit mit der Tatsache zu tun, dass „Kulturwissenschaft“ einmal der Name eines Studienganges war, der von mehreren Wissenschaftsdisziplinen gemeinsam verantwortet worden ist und dass unter diesem Namen zugleich eine neue Wissenschaftsdisziplin sich zu bilden begann. Das waren zunächst Ansätze einer philosophischen Kulturtheorie, die Anfang der 60er Jahre noch sehr stark durch politische Maximen und einen dogmatisch verengten Marxismus geprägt waren. Allerdings hatte der XX. Parteitag der KPdSU das sozialistische Gesellschaftskonzept diskutabel gemacht und der Anfang unserer Kulturtheorie fiel zusammen mit den von Walter Ulbricht angetriebenen Reformdebatten über die Folgen der technischen Revolution, über die Rolle der Jugend, über die ökonomische Struktur, über das System der Planung und Leitung und auch über das gesellschaftliche „Teilsystem Kultur“.

Prägend für das damals vertretene kulturtheoretische Konzept war es zweifellos auch, dass die sogenannten „Frühschriften“ von Marx (und Engels) erstmals veröffentlicht und kommentiert worden sind. Eines ihrer zentralen Themen sind die gewandelten Chancen für individuelle Subjektivität, für die Selbstbestimmung der Menschen in ihren sozialen und ideologischen Verwicklungen. Die historische Subjekt-Objekt-Dialektik wurde zu einem methodologischen Schlüssel. Zu untersuchen sei – so meinten wir damals - die „objektive Kultur“ (einer sozialen Einheit) in ihren prägenden Wirkungen wie in ihrer Abhängigkeit von den durch sie geprägten Subjekten, die sie tragen und lebendig halten. Der „subjektiven Kultur“ der Individuen (und Gruppen) galt die Aufmerksamkeit, wurde sie doch als Voraussetzung für Entstehung und Fortleben aller kulturellen Objektivationen angesehen.

Das ging zweifellos recht abstrakt-philosophisch zu und konditionierte nicht recht für Kulturpolitik und für die Leitung praktischer Kulturarbeit. Es lieferte aber nicht nur Argumente, sich gegenüber bornierten kulturpolitischen Vorstellungen mit Hinweis auf Karl Marx behaupten zu können, sondern machte auch den Rang theoretischer Grundpositionen deutlich. Die ersten Veröffentlichungen von Angehörigen des 64er Jahrgangs Kulturwissenschaft in der „Wissenschaftlichen Zeitschrift der Humboldt-Universität“ waren entsprechend anspruchsvoll bis hochgestochen. Isolde Dietrich schrieb über die „klassische Kritik der kapitalistischen Arbeitsteilung“, Wolfgang Thierse betrachtete „Marx’ Bestimmung der Kunst als eine besondere Weise der Produktion“, Renate Reschke machte sich „Gedanken zur marxistischen Hegelrezeption auf dem Gebiete der Ästhetik“, Margard Voigt betrachtete „Max Benses ‚Aesthetica’ im Lichte der Krise der modernen bürgerlichen Ästhetik“, Renate Karolewski schrieb „Zur sozialökonomischen Stellung des Künstlers im Kapitalismus unter den Bedingungen der Technisierung seiner Produktionssphäre“ und Wolfgang Herzberg dachte sich zusammen mit Klaus Spieler „Bemerkungen zur Subjektivitätsauffassung W. I. Lenins“ aus.

Sicher war das eine Phase eher allgemeintheoretischer Orientierung und mancher mag in der Vorlesung bei dem damals viel zitierten Satz von Marx „der wirkliche Reichtum ist der Reichtum wirklicher Beziehungen“ gedacht haben: wohl wahr, wohl wahr! Aber: auf diese Weise konnte dieser Satz - Credo der damals studierten Kulturtheorie – auch nicht vergessen werden.

Und wenn etwas als positive Erfahrung aus dieser Zeit geblieben ist, dann die Überzeugung, dass Kulturwissenschaft ohne eine philosophisch begründete Vorstellung von den großen gesellschaftlichen Zusammenhängen, in die Kultur eingebunden ist, nicht sinnvoll betrieben werden kann. Doch bekanntlich macht solch ein theoretischer Ansatz noch keine Kulturwissenschaft aus. Gefragt ist der „Reichtum wirklicher Beziehungen“.

Dies kann übrigens auch an der Geschichte eines berühmteren Instituts vergleichend angeschaut werden. Ein Jahr nach der Gründung der Kulturwissenschaft in Berlin wurde in Birmingham von Richard Hoggard das CCCS (das Zentrum für zeitgenössische kulturelle Studien) gegründet, zunächst allerdings als eine rein forschende Einrichtung. Dies geschah in der Tradition der marxistischen Literatur- und Geschichtswissenschaft Großbritanniens und begann mit zwei großen Fragen. Einmal wurde bezweifelt, dass die historisch-materialistische Strukturtheorie in ihrer vorhandenen Fassung (zentral die Basis-Überbau-Beziehung) geeignet sei, das Verhältnis von Kultur und Gesellschaft richtig zu erfassen. Und dann war ihnen der Kulturbegriff des etablierten Wissenschaftsbetriebs dünkelhaft, weil er ganze Bereiche moderner Kulturen gar nicht zur Kenntnis nahm. Sie dagegen rückten gerade diese ausgeschlossenen, empirisch aber nicht zu übersehenen Kulturen in die Mitte: die sub- und gegenkulturellen Strömungen, die Kulturen der Unterschichten und Migranten, die Popularkultur. Sie wendeten sich, wie Richard Hoggard (1957) geschrieben hatte, „der ‚wirklichen’ Welt der Leute“ zu.

Doch von diesem wissenschaftlichen Ereignis, mit dem die Cultural Studies begannen, erfuhren wir erst Mitte der 70er Jahre durch die Übersetzung von Raymond Williams’ Culture an Society (1975) und durch ein 1977 ebenfalls von H. Gustav Klaus herausgegebenes Bändchen mit Texten, das später „Innovationen“ hieß. Ich erwähne dies als eine gewisse Parallele. Wir waren zwar nicht durch das Bais-Überbau-Schema geprägt, aber auch uns war ja klar geworden, dass der schöne kulturtheoretische Ansatz, nach dem die praktisch tätigen Individuen die Wechselbeziehungen von objektiver und subjektiver Kultur in Bewegung hielten und vorantrieben, nur ein Konstrukt war, dessen wissenschaftliche Brauchbarkeit offen war und dass erst noch der Überprüfung und Konkretisierung an den kulturellen Realien, am Alltagsleben der Vielen bedurfte.

An dieser Stelle sei die Andeutung eines Rückblicks unterbrochen und auf die Komplexität einer solchen kulturgeschichtlichen Reminiszenz hingewiesen. Es ist ja offensichtlich, dass dabei Mehrerlei zusammenkommen muss. Einmal ist auf die gesellschaftliche und politische Situation einzugehen, in der Studierende und Lehrende jeweils gearbeitet haben. Dann hatte die Profession, die die Lehrenden sich aneigneten und ausübten, immer einen bestimmten Stand – international, im Lande und am Institut. Dann war da der Studiengang mit seinen Anforderungen, also Studierende mit bestimmten Interessen und mit Vorstellungen von ihrer späteren Arbeit. Zugleich waren - damit in Formulierung wie Inhalt oft nur wenig übereinstimmende - gesellschaftspolitische Erwartungen an diese Fachleute zu berücksichtigen. Sie sollten ja einen Arbeitsplatz finden. Und schließlich wären auch noch die verfügbaren Mittel zu würdigen, diesen Anforderungen zu genügen - wissenschaftliche, personelle, finanzielle, räumliche, kommunikative. Also insgesamt recht unterschiedliche Beziehungsfelder, die da mit- und gegeneinander in Bewegung waren. Und darum dürfte es auch völlig klar sein, dass die Vertreter der heute hier versammelten 33 Immatrikulationsjahrgänge als Studierende in je einer anderen solch „komplexen Situation“ waren, sie also wohl auf 33 verschiedene Weisen Kulturwissenschaft studiert haben dürften.

Weil wir die Situation der Studierenden als einen ständigen Wandel sehen, lag es nahe, unsere – freilich bescheidenen – Erkundungen zur Geschichte der Kulturwissenschaft zunächst auf die Absolventen, auf ihr Studium und ihren beruflichen Weg konzentrieren. Eine „Verbleibstudie“ wurde begonnen. Viele der heute Anwesenden haben dafür einen entsprechenden Fragebogen ausgefüllt, andere können es noch tun. Die ersten Ergebnisse der Studie werden morgen vorgestellt. Eine Art Abfallprodukt (und Hilfsmittel) war das Kulturwissenschaftliche Forum, das wir über unser Internetjournal www.kulturation.de eingerichtet haben. Es hat augenblicklich 361 aktive Mitglieder und könnte sich zu einer speziellen Kommunikationsplattform entwickeln. Jedenfalls ist es schon heute für jeden, der Kontakt zu seinen früheren Studienkollegen oder zu Kulturwissenschaftlern überhaupt sucht, ein brauchbares Hilfsmittel. Das gilt übrigens auch für das Journal selbst. Allerdings sind von den 94 dort verzeichneten Autoren nur 17 studierte Kulturwissenschaftler. Wer es nicht gemerkt hat: dies war eine indirekte Einladung zur Mitwirkung.

Über diese Verbleibstudie und über das KUWIFORUM haben wir auch schon viel anschauliches Material gesammelt. Es ist aber keineswegs komplett und bedarf der fortlaufenden Ergänzung. Dies alles dann zu präsentieren, ist mit konventionellen Medien gar nicht möglich. Teils wird es darum als Reihe von Aufsätzen oder als Report im Internetjournal www.kulturation.de erscheinen, teils wird es den „Personendossiers“ (alle sind Selbstdarstellungen!) im KUWIFORUM zugeordnet.

Wer sich dort als Kuwi ausweist, bekommt die beiden Codewörter für den passiven Zugang zum Forum, wer selbst Daten eingeben will, erhält die personengebundenen Codes eines aktiven Mitglieds. Wir müssen mit dieser Zugangsbarriere arbeiten. Denn der Berliner Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit teilte uns auf Anfrage mit, es sei nicht auszuschließen, dass Absolventen ein „schutzwürdiges Interesse“ hätten. Worin es bestehen könnte, drückte er (nicht sehr sprachmächtig, dafür aber realitätserfahren) so aus: „Es kann insbesondere gerade darin bestehen, dass die ehemaligen Studenten ein besonderes Interesse daran haben, in der Öffentlichkeit zu vermeiden, dass sie Kulturwissenschaft an einer DDR-Universität studierten.“

Die dritte Publikationsform ist eine Geschichte der Kulturwissenschaft in Bildern. Deren Urfassung wird hier heute und morgen mehrmals als Powerpointpräsentation vorgeführt und wird schließlich als DVD für alle verfügbar sein. Eine Voraussetzung dafür ist, dass weiteres anschauliches Material über die Studienzeit aber auch über die anschließenden Berufskarrieren bei uns eingeht. Übrigens: als Powerpoint erworben, hat jeder die Möglichkeit zur Korrektur dieser Geschichtsdarstellung: Unliebsames raus, eigene Bilder und Kommentare rein.

Solch korrigierender Eingriff könnte nötig sein, denn die jetzt vorliegende Darstellung gehorcht Gliederungsprinzipien die durchaus diskutabel sind. Damit habe ich geschickt eine Übergangsfloskel zurück zu meinem Hauptthema gefunden. Ich sehe nämlich eine zweite Phase in den Anfängen der Kulturwissenschaft als Disziplin.


5. Anfänge der Kulturwissenschaft als Disziplin – zweite Phase

Vielleicht wird der komplexe Charakter einer Geschichte der Kulturwissenschaft sichtbar, wenn ich auf diese nächste Phase hinweise, in der wir erneut intensiv darüber nachgedacht haben, wie der Studiengang zu gestalten sei und in welche Richtung die neue Kulturwissenschaft zu entwickeln wäre. Ich kann nicht alle der eben genannten „Beziehungsfelder“ durchdeklinieren und muss es mit Andeutungen bewenden lassen.

Den Anlass unserer Reformbemühungen bildeten wohl die Wandlungen sozialistischer Gesellschaftspolitik Anfang 70er Jahre. Der hier interessierende Aspekt war die größere Aufmerksamkeit für die innere soziale Differenzierung und für das Alltagsleben der Leute. Im Text einer kulturpolitischen Tagung des Zentralkomitees der SED standen plötzlich Sätze, die sich schon in unseren Lehrbriefen fanden. Ohne Zweifel war das eine politische Reaktion auf gewandelte Erwartungen in allen sozialen Schichten und damit selbstverständlich auch bei jenen jungen Leuten, die an die Universität kamen und ausgerechnet Kulturwissenschaft studieren wollten.

Jedenfalls leuchteten Anfang der 1970er Jahre Zeichen einer Wende auf, hin zu demokratischerer und sozial angemessenerer Gesamtpolitik. Und politische Kräfte in der DDR versuchten, ein sozialistisches Gesellschaftsverständnis von den (inzwischen qualitativ gewandelten) Lebensbedingen und Bedürfnissen der arbeitenden Menschen her zu entwickeln. Dafür hatten Kulturwissenschaftler bereits ein entsprechendes Konzept umfassender kultureller Entwicklung in Hauptlinien skizziert. Sieht man vom DDR-spezifischen Parteichinesisch einiger Formulierungen ab, so kann man darin Grundzüge eines zeitgemäßen Kulturkonzepts für eine entwickelte industrielle Gesellschaft sehen. Diese konzeptionellen Gedanken lenkten dann auch die Forschung auf die Frage, wie sich die sozialen Bedingungen individueller Entfaltung in den modernen (nach)industriellen Gesellschaften denn geschichtlich entwickelt haben und wie sie in der Gegenwart sich wandelten.

Das erleichterte oder ermöglichte etwas, was ohnehin anstand: die zaghafte Ausbildung einer eigenen Empirie und die (damit verbundene) stärkere Kooperation mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Eine eigene Zeitschrift wurde gegründet (auch wegen der darüber im Westen zu bestellenden Rezensionsexemplare aktueller Literatur), eine bis 1992 anhaltende Serie von jährlichen kulturtheoretischen Kolloquien wurde begonnen und es wurden neue langfristige Forschungsprojekte konzipiert.

Nun wirkten sich auch die gegen Ende der 60er Jahre einsetzenden Veränderungen in der westdeutschen Wissenschaftslandschaft aus. Jetzt gab es dort kulturwissenschaftliche Publikationen, an denen wir die eigene Position prüfen und profilieren konnten, an den Universitäten Bremen, Bielefeld, Marburg, Frankfurt, Tübingen und vor allem in Westberlin hatten wir nun Partner, die an einem Austausch mit uns interessiert waren. Dieser Anschluss an eine größere wissenschaftliche Community war nicht nur gut für das Selbstbewusstsein, er zwang vor allem dazu, sich sprachlich und terminologisch von Eigenschöpfungen und marxistisch-lenistischem Sondersprech zu trennen. Diese Eigenheiten waren auch einer gewissen Isolierung geschuldet, denn im Osten gab es außer den historischen Ethnologen der Sibirischen Abteilung der Akademie der Wissenschaften und den historischen Psychologen nur die polnische Freizeitsoziologie und einzelne ungarische Kulturtheoretiker, von denen Impulse für unsere Arbeit ausgehen konnten. Nun „stellten“ sich Kulturwissenschaftler anderen Fachsprachen wie Methoden und fanden in einigen ausgewählten Punkten den Anschluss an die internationale Wissenschaftsentwicklung. dabei näherten wir uns Spezialbereichen der Geschichtswissenschaft, der Ethnographie, der Volkskunde, der Soziologie, der Psychologie und der Wirtschaftswissenschaft.

Die neuen kommunikativen Kontakte (selbstverständlich auch innerhalb der DDR-Wissenschaft) machten es möglich, mit einem – wenn man an heutige Bedingungen denkt - für die Lehre zwar unerhört großen, für eine differenzierte Forschung aber sehr kleinen Personalbestand, neue kulturwissenschaftliche Arbeitsfelder zu eröffnen. Mit einem UNESCO-Projekt stiegen wir in die Freizeitforschung ein. Ästhetiker und Kulturwissenschaftler wandten sich der räumlich-gegenständlichen Umwelt, der Siedlungs- und Wohnweise wie der kulturellen Infrastruktur zu. Es begann der Ausbau der Individualitäts- und Persönlichkeitstheorie zu einem Konzept der "individuellen Reproduktion". Es entstanden einige Studien zu lokalen, regionalen, gruppen- und schichtenspezifischen kulturellen Differenzierungen bei Jugendlichen und in der Intelligenz. Wir entwickelten erste Ansätze zur Erforschung internationaler Kulturprozesse und damit für international-vergleichende kulturwissenschaftliche Studien. Die Umrisse einer Kulturgeschichte der deutschen Arbeiter wurden skizziert (mit starker Betonung der enormen kulturellen Folgen von kapitalistischer Lohnarbeit, der marktvermittelten Lebensweise, industrialisierter Siedlung, Kommunikation und Zeitordnung.)

Etwas schwer taten wir uns mit Unterweisungen in all dem, was heute Kulturmanagement heißt und damals „Planung und Leitung kultureller Prozesse“ genannt worden ist und was eigentlich die entscheidende Qualifikation der Absolventen sein sollte. Auch dafür bildeten wir eine kleine Arbeitsgruppe. Die kann so unproduktiv nicht agiert haben, denn ihre damaligen Leiter sind heute die Chefs wichtiger, national operierender „kultureller Einrichtungen“.

Alle diese Projekte wirkten auf das Studium und veränderten es – wie die meisten ohne die Leistungen der Studierenden gar nicht möglich gewesen wären. Und das betrifft beide Studienformen. Nicht wenige Fernstudenten haben sich – obwohl ihre Stärke in den Erfahrungen auf recht unterschiedlichen Feldern der Kulturarbeit und Kulturpolitik lag – mit wissenschaftlichen Arbeiten profiliert; einige von ihnen wechselten in den Wissenschaftsbetrieb, andere litten fürderhin an ihrer intellektuellen Überqualifikation.


6. Hat es eine dritte Phase gegeben?

Mit den 80er Jahren begann eine sehr zwiespältige Zeit. Gesellschaftspolitisch war sie trist und langweilig, brachte aber zugleich schon vor der spektakulären Schlussphase manche Aufregung. Der Kulturwissenschaftler Dieter Kramer hat mich 1990 gefragt, wann ich gemerkt habe, dass die DDR-Gesellschaft stagniert und von der Substanz lebt. Ich habe ihm damals gesagt, dass wir zu Beginn der 80er Jahre von den Wirtschaftsspezialisten der Parteiakademie informiert worden sind, dass der Wettbewerb im entscheidenden Felde, dem der Produktivkraftentwicklung verloren sei und der eingetretene Rückstand unter den gegebenen Bedingungen nicht mehr aufzuholen wäre. Eine ernüchternde Nachricht für Kulturwissenschaftler, die die letzte Bewegungsursache für Gesellschaft wie Kultur im Wandel der Produktivkräfte und der Verkehrsverhältnisse sehen. Spätestens 1983 war damit auch klar, dass die sozialen und kulturellen Aufwendungen weit über dem lagen, was die Volkswirtschaft tragen konnte und schon deshalb Zuwächse im kulturellen Bereich völlig ausgeschlossen waren. Alle litten unter der Stagnation, ein Ausweg aus der Lage zeichnete sich nicht ab. Das lenkte die Aufmerksamkeit auf die europäische Situation und auf die deutsch-deutschen Beziehungen.

Andererseits zahlte sich nun die kulturwissenschaftliche Arbeit der 70er Jahre langsam aus. Eine ganze Reihe von Büchern wurde herausgebracht, die MKF nahmen die Züge einer wirklichen wissenschaftlichen Zeitschrift an, die Anmeldungen zu unseren Kolloquien mehrten sich, wie die Einladungen zu Konferenzen und Gastvorlesungen zunahmen. Wir haben zusammen mit unseren Freunden von der Volkskunde ein eigenes kulturgeschichtliches Museum zustande gebracht und die Eröffnungsausstellung ging dann nach Hannover und Tübingen. Im Sommer 1989 konnte sie sogar in Westberlin gezeigt werden. Das Projekt Arbeiterkultur kam in das deutsch-deutsche Wissenschaftsabkommen, wir hatten es zu koordinieren und lernten dabei die westdeutsche Forschungsfinanzierung kennen. Auch das ermutigte uns, 1986/87 zwei deutsch-deutsche Forschungsprojekte gemeinsam anzugehen und bei der Volkswagenstiftung zu beantragen. Nur eines davon (über den Wandel der Massenkultur in den 1920er Jahren) ließ sich dann noch 1990/92 realisieren, die Ergebnisse sind in Nr. 30 der MKF nachzulesen. Ganz offensichtlich eine wissenschaftlich fruchtbare Zeit. Das Selbstbewußtsein nahm zu, auch bei den aufmüpfigen Studierenden und immer wieder waren „wir“ irgendwie auffällig und Adressat von Kontrollen und „Strafmaßnahmen“.

Unsere kulturwissenschaftlichen Freunde an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften traf es härter. Nach Helmut Hankes Rundumkritik der SED-Kulturpolitik erhängte sich sein Chef Hans Koch, der zugleich Vorsitzender des Wissenschaftlichen Rates für die Kulturwissenschaften war. Helmut selbst wurde nach Potsdam „verbannt“. Dazu kam, dass ein durch kollektive Ratschläge bei uns konzipiertes Papier über unsere Position in der europäischen Kultur die Politoberen mächtig erzürnen musste, weil ihnen Gorbatschow gerade jede europäische oder gar deutsch-deutsche Eigenmächtigkeit verboten hatte. Weil Honecker nicht „in die BRD“ reisen durfte, gerieten auch unsere wissenschaftlichen West-Aktivitäten in ein anderes Licht und wurden überprüft. Dazu kamen „Unbotmäßigkeiten“ unserer Studenten und freimütige Äußerungen von Mitarbeitern über die ausstehende „biologische Lösung“ der Führungsprobleme der SED, so dass laut über die Schließung des Studienganges Kulturwissenschaft nachgedacht wurde. Aber erst einmal wurde eine große Überprüfungskommission gebildet, deren Mitgliedern es schließlich an Interesse und Handlungsenergie mangelte. Anzumerkende Kuriosität: stattdessen stiftete der Hochschulminister der DDR einen Wissenschaftspreis, den er im Sommer 1989 zum ersten und letzten Mal verlieh – an zwei Schmuddelkinder, an denen der ständige Auszeichnungssegen bislang völlig vorbeigegangen war: an die Forschungsgruppe AIDS der Charité und an unsere Forschungsgruppe Arbeiterkultur.

Diese Übersicht macht vielleicht den Eindruck, dass die politischen Auseinandersetzungen der Jahre 1988/89 uns nicht so recht interessiert hätten. Und tatsächlich hatten die Dämpfer, die uns 1986 verpasst worden sind, eine gewisse Wirkung. Aber ab 1987 haben wir uns aktiv an den Reformdebatten beteiligt, die in der Regie von Dieter Klein unter den Gesellschaftswissenschaftlern der Humboldt-Universität stattgefunden haben. Da wurden viele Expertisen und Konzepte ausgearbeitet. Das von Sigrid Meuschel geleitete Projekt zu den sogenannten „SED-Reformern“ hat sie in den 90er Jahren alle aufgearbeitet, kommentiert und in gut zwanzig Bänden zusammengefasst. Zwei davon füllen unsere damaligen Vorstellungen von der Entwicklung der Kultur, der Kulturpolitik und selbstverständlich von der angestrebten Zukunft der Kulturwissenschaft. Und 1989 gingen wir ohne Zögern daran, unsere eigene Arbeit in diesem Sinne zu reformieren und jene Struktur der kulturwissenschaftlichen Forschung und Lehre anzustreben, die ich auch heute noch für recht klug und ausgewogen halte. Dafür hatten wir dann 1990/92 auch noch gute Bedingungen, und unser Studienplan sollte auch noch bis 1993 gültig sein. Was wir nicht wussten: im Kulturwissenschaftlichen Institut Essen hatten sich schon jene Fellows versammelt, die sich in einem Zweijahreskurs darauf vorbereiteten, die Kulturwissenschaft in den Neuen Bundesländern zu übernehmen. Nicht alle davon haben eine Professur abbekommen, einigen von ihnen hätte ich es schon gewünscht.


7. Ein möglicher Schluss

Nun muss ich – obwohl dieses Ende nicht zufrieden stimmen kann, aber „jegliches hat seine Zeit“ – einen positiv-versöhnlichen Schluss versuchen. Und dies, obwohl es gleichermaßen unerfreulich ist, wenn man angesichts der großen kulturellen Umbrüche und Konflikte der Gegenwart die deutsche Kulturwissenschaft als verhältnismäßig unterentwickelt wahrnehmen muss. Dies nicht nur wegen der Distanz, die etliche der wenigen Kulturwissenschaftler zu den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und alltagswirklichen Verwicklungen der Kulturen haben. Da täuscht das Gerede über den sogenannten Cultural Turn in den Wissenschaften auch noch darüber hinweg, dass die seriöse Kulturwissenschaft hierzulande auch quantitativ sträflich unterentwickelt ist. Überdies erzeugt es Abwehr, wenn es trivialisiert heißt, dass nun alles irgendwie Kultur sein solle, Kultur die Natur des Menschen wäre usw. [Bredekamp: „vom Zeitgeist gelenkt und ideologieanfällig“].

Ich will nicht verhehlen, dass auch im Unbehagen an diesem Ungenügen ein Motiv für den Rückblick auf die Geschichte der ostdeutschen Kulturwissenschaft liegt. Und so sollte trotz (oder gerade wegen?) ihres unrühmlichen Endes die Frage aufgeworfen werden, was deren Tradition denn hätten einbringen können. Hier ein Vorschlag in fünf Punkten, der - das ist ja unschwer zu erkennen - sich auch an den Mängeln des geistesgeschichtlichen Unterhaltungsbetriebs reibt, der heute vielfach als Kulturwissenschaft firmiert. Zu positiven Merkmalen ostdeutscher Kulturwissenschaft zähle ich (einige der negativen habe ich bereits angedeutet):

1. eine bestimmte marxistische Traditionslinie, innerhalb derer immer wieder aufs Neue nach den sozialen und kulturellen Vermittlungen zwischen sozialen Makrostrukturen und individuellem Dasein gesucht wurde. Es wurde probiert, die Kulturwissenschaft als eine historische Sozialwissenschaft zu entwickeln. Sie wurde nicht als geisteswissenschaftliche Disziplin verstanden, sondern als eine „Gesellschaftswissenschaft“. Wir hätten – freilich missverständlich - „Menschenwissenschaft“ sagen können oder besser „historische Anthropologie“. Aber wer hätte uns dann verstanden?

2. gehörte zur Arbeitsweise ein bestimmter Sinn für die Nöte und für die Chancen der/des Menschen in der modernen Welt - Voraussetzung für jedes wissenschaftliche und praktische Interesse an Kultur. Dieser Sinn ist es auch, der die Nähe zu den Künsten stiftet. Sie sind es ja, die vornehmlich die Freiheit der einzelnen einfordern, sie in ihrer sozialen Gebundenheit und in aller Widersprüchlichkeit denken und auch erlebbar machen. Kulturpolitisch führte uns das zu dem Widerspruch, einerseits künstlerische Produktionen fördern zu wollen, die in die gesellschaftlichen Debatten so oder so eingreifen. Und dann wussten wir andererseits schließlich (!) auch, dass die eigenen Welten der Künste und der Künstler als autonome Räume, als Experimentierfelder und Rückzugsorte wohl zu sichern und zu schützen sind. Und dies, weil sie – und dies im Unterschied zu den Wissenschaften – auch darin Modell selbstbestimmten Handelns sind.

3. möchte ich eine bestimmte gesellschaftskritische Haltung nennen, ohne die Kulturwissenschaft zum „Glasperlenspiel“ gehört oder als intellektuelle Unterhaltungsform betrieben wird. Aus kritischer Geisteshaltung folgen ihre Utopien, ihre Änderungsabsichten und ihre wissenschaftliche Sensibilität. Im Rückblick auf die DDR besteht allerdings die Neigung, nur die politische Kritik gelten zu lassen. Dies hat seine gewisse Berechtigung darin, dass in einer vor allem politisch regulierten Gesellschaft das politische Handeln ein ganz anderes Gewicht hat als in der heutigen, in der die Politik – verglichen mit der Wirtschaft - zu den sekundären Mächten gehört. Aber betonen wollte ich eine gesellschaftskritische Haltung, die bei uns zumindest in den 80er Jahren mit Hoffnungen an eine politisch reformierte DDR geknüpft war.

4. lässt sich eine bestimmte thematische Orientierung beobachten. Was Kulturwissenschaftlern vor Jahrzehnten wichtig war, erschöpft zwar die heutige Problemlage nicht annähernd, beschränkte sich aber keineswegs auf die spezifischen Verwicklungen des "Staatssozialismus". Zu diesen Themen von „übergreifender Bedeutung“ gehören: die Wandlungen der Lebensweisen und Lebensstile, die Spannungen zwischen Individualisierung und Massenkultur, die ökologische Wende in der abendländischen Kulturauffassung, die kulturelle Situation der Geschlechter, die Voraussetzungen für einen kulturellen Pluralismus (Gruppenkulturen, Minderheiten, Föderalismus), die mögliche Zukunft des kulturellen Leben der Städte und Gemeinden (Soziokultur, Vereinswesen), die Formen der Kulturförderung, die Spanne zwischen den Alternativkulturen und dem staatlichen wie dem kommerziellen Kulturbetrieb usw. Und schließlich auch die Frage danach, was denn europäische Kultur sei und wie darin deren sozialistische Elemente platziert sind.

5. An letzter Stelle möchte ich auf die Kenntnis der ostdeutschen Kultur und ihrer Geschichte von 1945 bis heute verweisen. Ich kann nicht näher darauf eingehen, warum diese Kenntnisse für das Verständnis der heutigen kulturellen Situation wohl unabdingbar sind. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass die wichtigsten fachspezifischen Leistungen von ostdeutschen Kulturwissenschaftlern nach 1990 in Publikationen zur Kulturgeschichte der DDR und zur kulturellen Situation nach 1990 zu finden sind. Jeder kann sich davon selbst überzeugen, wenn er die auf den drei Tafeln ausgestellten 322 Titelseiten von Publikationen anschaut, die von den Berliner Kulturwissenschaftlern stammen oder an denen sie prominent mitgewirkt haben. Dieser „Materialbestand“ lässt sogar die Frage aufkommen, ob denn nicht schon eine kulturgeschichtliche Gesamtdarstellung zu versuchen wäre. Auch die Geschichte unseres Studienganges könnte – wie ich gerade in den letzten Wochen intensiv erlebt habe – ein spannender und aufschlussreicher Zugang dazu sein. Schon die umfangreiche Personage ist hochinteressant in ihrer inneren Differenziertheit, in der Mannigfaltigkeit der Talente und Professionen, in der Fülle an Erfahrungen und in der Vielfalt der Schicksale.

Und dies war auch der Grund dafür, warum wir zu unserer kleinen Tagung über die Geschichte und über mögliche Perspektiven der Kulturwissenschaft nicht den kleinen Kreis der Spezialisten eingeladen haben, sondern auch alle, für die das kulturwissenschaftliche Studium zwar nur ein Moment ihrer Biografie ist, die aber mit ihrem Berufsleben die ostdeutsche Kulturgeschichte der letzten 40 Jahre wie kaum eine andere Gruppe mitprägten und heute in ihrer Person auch repräsentieren.



 Vorträge 1
Norbert Krenzlin (Foto: Scheel)

Norbert Krenzlin

Die Geburt der DDR-Kulturwissenschaft aus Philosophie und Ästhetik

Die Gründung von philosophischen Instituten an den Universitäten Berlin, Leipzig und Jena im Jahre 1951, verbunden mit der Einführung eines fünfjährigen Philosophiestudiums, bilden den historischen Rahmen des Themas. Die Institute hatten in der Regel folgende Struktur (Abteilungen, Bereiche):

- - - Dialektischer und Historischer Materialismus
- - - Logik und Erkenntnistheorie
- - - Geschichte der Philosophie
- - - Ästhetik bzw. Ethik (das hing vom Profil der Mitarbeiter ab)
- - - In Berlin kam 1959 noch der Bereich „Philosophische Probleme der modernen Naturwissenschaften“ hinzu.

Von einem Bereich „Kulturwissenschaft“ war noch keine Rede; um so mehr von Kulturpolitik, sozialistischer Kultur, von Kulturschaffenden und – nicht zu vergessen – vom „Leninschen Programm der sozialistischen Kulturrevolution“.

Der Studienplan von 1951, dessen hervorstechendes Merkmal – neben der politischen Indoktrination – die systematische Verschulung des Studiums war, wurde 1956 durch den „Studienplan für die Fachrichtung Philosophie“ abgelöst; sein Inhalt war maßgeblich von Ernst Bloch mitbestimmt worden [1]. In ihm kamen die philosophischen Spezialisierungen und die „Ergänzungsfächer“ zum Zuge; im Hinblick auf die Ästhetik z.B. Literatur-, Kunst- und Musikgeschichte, Germanistik, Anglistik, Romanistik. Damit konnte man leben, wenn ich an die zweite Hälfte meines Studiums zurückdenke. Der Blick über den Tellerrand weckte Neugier und ließ hoffen.

1956, ein geschichtsträchtiges Jahr (XX. Parteitag der KPdSU; Ungarn-Aufstand; Verhaftung Wolfgang Harichs), waren in der „Ästhetik“ des Berliner Instituts für Philosophie folgende Wissenschaftler tätig: Walter Besenbruch (1907-2003), Wolfgang Heise (1925-1987), Heinz Wolfrum (Jg. 1926); hinzu kam der Aspirant Erhard John (1919 - 1997). John hatte sich durch engagierte „Kulturarbeit“ in Sachsen eine Aspirantur (1954-1956) erwirkt. Er war u. a. als Leiter der Landesvolkshochschule Sachsen tätig gewesen, der späteren Zentralen Schule für kulturelle Aufklärung, Meißen-Siebeneichen.

Es lohnt sich, daran zu erinnern, wer mit welchem Thema wann promoviert hat.

Wolfgang Heise, seit 1952 wissenschaftlicher Oberassistent am Institut für Philosophie, promovierte 1954 mit der Studie „Johann Christian Edelmann. Seine historische Bedeutung als Exponent der antifeudalen bürgerlichen Opposition um die Mitte des 18.Jahrhunderts“. Das hatte wenig mit Ästhetik zu tun, aber viel mit der Hegel-Phobie Stalins. „Im Kontext der internen Hegel-Debatte“, so Camilla Warnke, „wurde… am Philosophischen Institut der Humboldt-Universität … 1952 eine Arbeitsgruppe zur Erforschung vergessener deutscher Materialisten etabliert. Die Resultate dieser Materialismus-Forschung sollten beweisen, dass auch in der Geschichte der deutschen Philosophie der Materialismus und nicht der Idealismus das ‚Banner der aufsteigenden Klassen’, des Fortschrittes, gewesen sei.“ [2] Wolfgang Heise wurde 1955 Wahrnehmungsdozent für Theorie und Geschichte der Ästhetik und glänzte damals schon vor großem Publikum mit seinen Vorlesungen zur Geschichte der Ästhetik.

Walter Besenbruch, seit Oktober 1953 Professor für Ästhetik am Institut für Philosophie, promovierte mit der als Buch bekannt gewordenen Abhandlung „Zum Problem des Typischen in der Kunst. Versuch über den Zusammenhang der Grundkategorien der Ästhetik“. Weimar 1956. Tag der Promotion war der 29.06.1956.

Der Aspirant Erhard John wurde am 28.11.1956 zum Dr. phil. promoviert (in seinem Falle war dies zugleich der Hochschulabschluss). Das Thema seiner Dissertation lautete: „Propädeutik zu einer Theorie der Kultur und Kulturrevolution“. Die Dissertation wurde, ohne dies kenntlich zu machen, im darauf folgenden Jahr als erster Teil des zweiteiligen Buches „Probleme der Kultur und der Kulturarbeit“, Berlin 1957 (Deutscher Verlag der Wissenschaften) veröffentlicht. (Erster Teil: „Kultur und Gesellschaft“; Zweiter Teil: „Bemerkungen zu einigen theoretischen Fragen der Kulturarbeit“.) [3]

Heinz Wolfrum, Absolvent des Ersten Referentenlehrgangs des Kulturbunds 1949, kam 1951 an das Institut für Philosophie und wurde Assistent und Seminarleiter in der Ästhetik. Er hat meines Wissens nicht promoviert. In Erinnerung geblieben ist er mir vor allem durch eine Episode, in der Walter Besenbruch und der Bildhauer Christian Daniel Rauch eine Rolle spielen. Walter Besenbruch liebte es, von Zeit zu Zeit den Geist der Goethezeit zu beschwören und die Studenten daran teilhaben zu lassen. Er besaß einen Gipsabguss der sehr schönen Goethebüste Rauchs (1820), die er sich gelegentlich von seinem Zimmer in den benachbarten Hörsaal 24 bringen ließ. Links neben dem Katheder – vom Auditorium aus gesehen - befand sich eine Tischreihe, auf der die Goethebüste Platz fand. Heinz Wolfrum, klein und schmal, die schwere Büste schleppend – das Bild ist in Erinnerung geblieben und inspiriert seither meinen Begriff von Kulturarbeit.

Aus dem bisher Vorgestellten ergibt sich folgendes Bild: Bis 1956, also in den ersten fünf Jahren seiner Existenz, hatte es im Bereich Ästhetik des Berliner Instituts für Philosophie nur zwei Promotionen zu Themen und in Verantwortung des Fachs gegeben: die von Walter Besenbruch und Erhard John. Es fällt auf, dass Ästhetik und Kulturwissenschaft bei der Betreuung und Promotion des „wissenschaftlichen Nachwuchses“, dessen Vertreter in dieser Umbruchszeit bereits vierzig Jahre und älter sein konnten, von Wissenschaftlern anderer Bereiche und Institute abhängig waren. Besenbruchs Gutachter waren die Romanistin Prof. Dr. Rita Schober (Jg.1918) und der Philosoph (Logiker und Erkenntnistheoretiker) Prof. Dr. Georg Klaus (1912 – 1974), der zu dieser Zeit wohl einzige Lehrstuhlinhaber am Philosophischen Institut; die Gutachter von Erhard John waren ebenfalls Georg Klaus sowie Dr. Hermann Scheler (1911-1972) als Vertreter des Historischen Materialismus. - Walter Besenbruch dankt im Vorwort seines Buches Frau Prof. Dr. Rita Schober, den Genossen Havemann, Gotsche und Begenau sowie der sowjetischen Ästhetik. Erhard John dankt den „Kulturschaffenden verschiedener Gebiete“ sowie namentlich „Dr. Scheler und insbesondere Dr. Heyse“ (!).[4]

Walter Besenbruchs Dissertation war bereits vor der Promotion als Buch erschienen und in der Öffentlichkeit – in jener kurzen Phase, die auf Entstalinisierung hoffen ließ[5] - lebhaft diskutiert worden. Dabei handelte es sich einmal um eine Diskussion „Am runden Tisch des SONNTAG“ [6]; zum anderen um einen Artikel Wolfgang Heises, der sich in der Auseinandersetzung mit Positionen Walter Besenbruchs „Zu einigen Grundfragen der marxistischen Ästhetik“ äußerte[7]. Heises Artikel, dies nebenbei bemerkt, hatte maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung der Berliner Ästhetik.

Anders liegen die Probleme bei der Promotion von Erhard John. Zwar hat auch er dafür gesorgt, dass seine Dissertation schnell an die Öffentlichkeit kam; aber das passierte erst nach dem Rigorosum, d.h. die Gutachter waren mit dem Promovenden und seiner Dissertation zunächst unter sich. Und das hatte Folgen. Die Frage, ob „Kultur“ einer eigenen Wissenschaft bedarf – als Theorie und Geschichte ihres Gegenstandes – und wie dies gegebenenfalls methodisch zu realisieren sei, tauchte in den Gutachten und im Rigorosum, weil politisch noch nicht relevant, nicht auf.

Im Gutachten von Georg Klaus heißt es: „John stellt sich die Aufgabe, eine wissenschaftliche Fundierung und Formulierung des marxistischen Kulturbegriffs herauszuarbeiten und daraus Schlussfolgerungen über die Stellung der Kultur zu Basis und Überbau und zur Kulturpolitik abzuleiten. Er bemüht sich ferner, das Wesen des sozialistischen Humanismus und der sozialistischen Kulturrevolution darzustellen.“ Dies sei verdienstvoll und im Wesentlichen gelungen. Kritisch merkt Klaus an, dass Johns „Beweisführung oft esoterischen Charakter trägt, d.h. stillschweigend an die Zustimmung des Lesers zu bestimmten Prämissen, die erst zu beweisen wären, appelliert.“ Der Vorwurf ist hart und – genau besehen - sehr grundsätzlich, weil er nicht nur Erhard John, sondern den „Marxismus-Leninismus“ in seiner dogmatischen Erstarrung als Ganzes trifft. Dem kam es – nicht nur in der philosophischen Arbeit - schon längst nicht mehr aufs Beweisen und Überzeugen an, sondern auf Parteidisziplin und unerschütterlichen Glauben: an die vermeintliche Überlegenheit der in die Lehre „Eingeweihten“, der „Wissenden“, eben „Esoteriker“. [8] Aus derselben Perspektive moniert Klaus eine gewisse Laxheit Johns im Umgang mit philosophiegeschichtlichen Themen von der Aufklärung bis zur modernen bürgerlichen Philosophie. Er denkt dabei vor allem an Oswald Spengler.

Für Hermann Scheler ist Johns Arbeit „ein wertvoller Versuch, den marxistischen Kulturbegriff sowie den Gegenstandsbereich der Kulturpolitik des sozialistischen Staates zu bestimmen.“ Zustimmend hebt der Gutachter den Gedanken hervor, dass die Produkte Vergegenständlichungen menschlicher Wesenkräfte und als solche „Kulturgüter“ sind: „gleichgültig ob sie als Produkte vorwiegend geistiger oder körperlicher Arbeit erscheinen.“ „Gewisse Schwächen der Arbeit“ sieht Scheler „in einer ungenügenden Bestimmung des Begriffs der menschlichen Wesenskräfte“ sowie „in einer gewissen Abstraktheit, in der sich die Abhandlung über den marxistischen Kulturbegriff bewegt.“

In Johns Arbeit war die Tendenz erkennbar, sich von Philosophie und Ästhetik zu emanzipieren und eine eigenständige „Kulturwissenschaft“ ins Leben zu rufen. Die Frage, ob und wieweit dies gelungen ist, hat in den Gutachten und im Rigorosum von 1956 noch keine Rolle gespielt. Acht Jahre später, 1960 war die Hochschulausbildung von Kulturwissenschaftlern und Kulturfunktionären in die politische Agenda aufgenommen worden[9], ist Dietrich Mühlberg bei seinem Versuch, eine marxistische Kulturgeschichte zu begründen, darauf zurückgekommen: “Es trat zunächst E. John mit einer Kritik des ‚Sammelbegriffs’ der Kultur auf, wie er in den verschiedenen sowjetischen Publikationen der fünfziger Jahre gegeben worden ist. Er setzte an seine Stelle jedoch wiederum eine Aufzählung verschiedener wesentlicher Zusammenhänge, Bestimmungen und Erscheinungen. … Positiv und weiterweisend an diesem Bestimmungsversuch war, dass John die ‚Entfaltung der körperlichen und geistigen Kräfte’ ‚auf der Grundlage der Arbeit ‚ hervorhob und die zielstrebig fortschreitenden Beherrschung von Natur und Gesellschaft durch ‚Anwendung’ der ‚vergegenständlichten Wesenskräfte’ betonte.“ [10]

Die Situation von Ästhetik und Kulturwissenschaft dieser Jahre war durch zwei Momente gekennzeichnet.

1. Es gab noch keine politische Legitimation für die Aufgabe, Kultur – ihre Theorie und Geschichte – systematisch zu erforschen und auszuarbeiten. Sie erfolgte erst 1960. Dies im Unterschied zur Ästhetik, die auf eine lange Tradition in Philosophie und Wissenschaft zurückblicken konnte.

2. Noch bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts war es üblich, dass Kulturwissenschaft – genauer: Reflexionen über Kulturpolitik – von Ästhetikern mitvertreten wurden. [11] Walter Besenbruch z.B. hinterließ ein umfangreiches, zu großen Teilen noch unveröffentlichtes Konvolut zu Fragen der Kultur und Kulturpolitik, in das ich Dank des freundlichen Entgegenkommens von Helga Besenbruch, Einsicht nehmen konnte. [12] - 1962 wird Erhard John in Leipzig zum „Dozenten für Allgemeine Kulturwissenschaft (Ästhetik und Kulturtheorie/-philosophie)“ berufen.

Wie sich die Kulturwissenschaft seither entwickelt hat, kann der Power Point Präsentation „Geschichte der Ostberliner Kulturwissenschaft 1945 - 2006 in Bildern und Dokumenten – ein offenes Projekt“ entnommen werden. Ich möchte an dieser Stelle auf Michael Franz´ vergleichbare Studie zur Entwicklung der Berliner Ästhetik aufmerksam machen. Darin heißt es: „Das Neue Ökonomische System (NÖS) [das war 1963; N.K.] stellte die Ästhetik vor große Herausforderungen: Es wurde klar, dass Ästhetik künftig unter qualitativ veränderten Bedingungen betrieben werden musste, nicht mehr unter dominant ideologischen Bedingungen, sondern unter dem Anforderungsdruck einer Revolution der technischen Produktivkräfte, die völlig neue Gestaltungsspielräume eröffnete. Ästhetik musste sich nicht nur auf industrielles Bauen und weltmarktorientierte Produktstrategien, sondern auch auf neue Instrumente und Methoden der elektronischen Datenverarbeitung einstellen. Aus dem Trend zur Mikroelektronik und zur Vollautomatisierung ergaben sich neue Entwicklungslinien, die ebenso berücksichtigt werden mussten wie die Medialisierung der sozialen Kommunikation einschließlich des Kunstprozesses.
Die Neuansätze innerhalb der ‚Berliner Ästhetik’ sind als Antworten auf die genannten Herausforderungen zu begreifen. Sie lassen sich nach folgenden Schwerpunkten charakterisieren: (1) philosophische und historische Grundlegung einer funktionalen Realismustheorie, (2) Untersuchungen zum Wahrheitsproblem in den Künsten, (3) die axiologische Problematik der künstlerischen Aneignung, (4) Anwendung und Spezifizierung der Semiotik in der Ästhetik, (5) Rehabilitierung und Neubegründung des ästhetischen Eigenwerts der Künste, (6) Historisierung und Neukonzeptualisierung des Ensembles der Künste.“ [13]
So weit Michael Franz und die Erinnerung an die freundlich konstruktive Seite der Entwicklung der Berliner Ästhetik seit den sechziger Jahren, über die man diskutieren müßte. Ich kann allerdings, wenn es um die Geschichte der Berliner Ästhetik geht, das Ende der DDR – mag dieses nun auch schon wieder 18 Jahre her sein – und seine Ursachen, sofern sie die Ästhetik tangieren, nicht aussparen. [14] Wenn einer versucht hat, engagiert Ästhetik zu betreiben, also mit Herz und Verstand, und dadurch angehalten war, sich intensiv mit der DDR-Kunst und –Literatur zu beschäftigen, sich auch auf Schriftsteller und Künstler einzulassen, wie es uns Wolfgang Heise exemplarisch vorgemacht hatte, bei dem konnten die Tröstungen und Verheißungen des Marxismus-Leninismus und die Drohungen der Partei nicht mehr verfangen. Die ernst zu nehmenden Künste im Sozialismus, vor allem im Spätsozialismus, besaßen ein Monopol (manchmal errungen um den Preis künstlerischer Qualität): sie als einzige konnten - mit etwas Fortune – Gegenstände und Themen zur Sprache bringen, die im übrigen tabu waren, und so eine kleine, aber authentische Öffentlichkeit bilden, die es in der Gesellschaft sonst dafür nicht gab. Und sie luden dazu ein, an den Kunstwerken den Zustand der Gesellschaft und die Befindlichkeit der Individuen in ihr zu diagnostizieren. Lange bevor es realiter zu Ende ging, war die Krise der DDR in den Künsten und von Künstlern signalisiert worden: der Massenausreise von 1989 war der Abschied der Künstler seit 1976 vorausgegangen. Karin Hirdina, eine prominente Vertreterin der Berliner Ästhetik, kam in ihrer Analyse der damaligen Situation zu folgendem Ergebnis: „In den Künsten ist thematisiert worden, was jetzt als Krise allgemein diskutiert wird: die Ohnmacht des einzelnen gegenüber verselbständigten Macht- und Sicherheitsapparaten, die Aushöhlung der gesellschaftlichen Ziele, zunehmende weltanschauliche Orientierungs- und Bindungslosigkeit, Erziehung zu Heuchelei und Opportunismus, Auseinanderklaffen von öffentlichem Bewusstsein, von Information und Realität, Leistungsverweigerung und Privatisierung. Der Umgang mit der Kunst, die diese Tendenzen zur Sprache brachte, ist selbst Zeichen der Krise: Statt den Schaden zu untersuchen und zu beheben, wurden die Schadensmelder bestraft, zensiert, ausgebürgert.“ Ästhetiker in dieser Situation fühlten sich permanent gestresst. Sie waren es aus der Geschichte des Marxismus zwar gewöhnt, dass auf ihrem Feld häufig „Stellvertreterkriege“ geführt wurden – eine Tradition, die vom „Sickingen-Briefwechsel“ (1859) bis zum berühmt-berüchtigten 11. Plenum (1965) reicht; „Expressionismusdebatte“ (1937/38) und „Formalismus-Diskussion“ (1951), zwei weitere prominente Beispiele dürfen nicht unerwähnt bleiben; aber so isoliert waren sie wohl noch nie. Der Freitod Hans Kochs im Herbst 1986 wurde in dieser Situation zum Menetekel.

Ich möchte abschließend, die Gelegenheit nutzen, auf zwei Bücher aufmerksam zu machen, die in diesem Jahr erschienen sind und von denen ich meine, dass sie auch Kulturwissenschaftlern und Ästhetikern viel zu sagen haben. Es handelt sich um Werner Bräunigs (1934 – 1976) Roman „Rummelplatz“, herausgegeben von Angela Drescher [15], Berlin (Aufbau) 2007; und um Edith Andersons (1915 – 1999) „Liebe im Exil – Erinnerungen einer amerikanischen Schriftstellerin an das Leben im Berlin der Nachkriegszeit“, BasisDruck (Berlin) 2007; herausgegeben von Cornelia Schroeder.[16] Beide Bücher handeln von der Frühgeschichte der DDR. Bräunigs Roman spielt unter Kumpeln der Wismut AG; Edith Anderson, Frau von Max Schroeder, des ersten Cheflektors des Aufbau Verlags, erzählt die Geschichte der politischen und künstlerischen Oberschicht der jungen DDR. Beiden Büchern gemeinsam ist, dass sie in der DDR nicht erscheinen konnten. Den Versuch, Bräunigs Roman zu veröffentlichen, hat das11.Plenum (1965) zunichte gemacht – und den Autor gleich mit. Das Manuskript der Erinnerungen Edith Andersons wurde erst 1995, sechs Jahre nach dem Ende der DDR, abgeschlossen. Die Frage, ob das Buch, sofern es früher fertig geworden wäre, in der DDR hätte erscheinen können, ist müßig. „Edith Andersons Erinnerungen sind gleichermaßen Liebes-, Lebens- und Kulturgeschichte der Jahre 1947 – 1958. Kühl, lebhaft, ironisch und selbstironisch – gegen die zunehmende Unkenntlichkeit jener Zeit geschrieben.“


Anmerkungen

[1] Vgl. hierzu: „Studienpläne für das Fach Philosophie in der DDR 1951 und 1956“ in „Dokumenten-Anhang zusammengestellt und kommentiert von Hans-Christoph Rauh“. In: Anfänge der DDR-Philosophie: Ansprüche, Ohnmacht, Scheitern/ Volker Gerhardt; Hans-Christoph Rauh (Hg.). Berlin (Links) 2001. S.517 ff.

[2] Camilla Warnke: Der junge Harich. In: Anfänge der DDR-Philosophie. A. a. O. , S.486.

[3] Vermutlich hat Erhard John die Zeit der Aspirantur in Berlin - mehr als zwei Jahre – genutzt, um das Buch zu schreiben und den ersten Teil davon – unter theoretisch anspruchsvollem Titel - als Dissertationsschrift eingereicht.

[4] Ich hatte Gelegenheit, die Promotionsakten von Walter Besenbruch und Erhard John im Universitätsarchiv der HU einzusehen.

[5] Daß es der Parteiführung mit der „Entstalinisierung“ nie ernst war, zeigt auch eine Tagung des Parteiaktivs der Humboldt-Universität [Juni 1956], auf der Walter Ulbricht, Erster Sekretär des ZK der SED, die Beschlüsse des XX.Parteitags der KPdSU und der 3. Parteikonferenz der SED erläuterte, und zwar ganz im Sinne des Sprichworts „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß“. Ulbricht hatte keine Schwierigkeiten, Forderungen zu stellen, die sich wechselseitig paralysierten: (1)„Die Diskussion wird auch gehindert, weil vielfach bei der Vertretung neuer Ideen geantwortet wurde: ´Du liegst schief.´ Man muß diese Methoden überwinden.“ (2.) „Da es in vielen Parteileitungen der Universitäten und Hochschulen Schwankungen gibt, muß der ideologisch-politischen Arbeit mit diesen Parteileitungen sowie der Schulung des Parteiaktivs an den Universitäten und Hochschulen besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.“ (ND vom 21.06.1956, S.3) „Schieflage“ oder „Schwankung“ – das ist hier die Frage! Absurdes Theater, auf den Bühnen der DDR verboten, tummelte sich unbekümmert in der Politik.

[6] „Das Wagnis der Definition – ist es gelungen? Zusammenkunft der Ästhetiker am 18.Oktober [1956] in Berlin“. Veröffentlicht in der gleichnamigen kulturpolitischen Wochenzeitung des Kulturbunds.

[7] DZfPhil 1/1957, S.50-81.

[8] Nebenbei bemerkt: selbst ein solches nur beiläufiges Apercu zeugt von der singulären Rolle Georg Klaus` am Institut für Philosophie jener Zeit.

[9] Dies geschah auf der Kulturkonferenz des ZK der SED, des Ministeriums für Kultur und des Deutschen Kulturbundes in Berlin (27.-29.04.1960).

[10] D. Mühlberg: Zur marxistischen Auffassung der Kulturgeschichte. DZfPhil 9/1964, S.1038 f.- Mühlberg zitiert aus dem 1.Teil des Buches, also aus der Dissertation Johns

[11] Natürlich war es auch möglich, dass Kulturwissenschaftler über die Ästhetik reüssierten.

[12] Im folgenden – nur als Beispiel – die Titel von 4 Ausarbeitungen Walter Besenbruchs, die im Manuskript vorliegen und m. W. nicht veröffentlicht worden sind:
Großes Manuskript; 4 Teile (188 S.) ohne Überschrift; nach 1958
Der Beschluss des V. Parteitags u. die Theorie der Kultur (1-54)
Fortschritt, Kultur und die Perspektive des Kulturbegriffs (55-68)
[es fehlen: S.69 – 117]
Auch eine „Kultur der Politik“ - Die heutige Kulturkonzeption der rechten SPD-Führung (118-143])
Kulturrevolution – Realismus – Sozialistischer Realismus (144 – 188)
„Die Kulturrevolution und das Schöne“ (39 S.); nach 1958.
„Was ist Kultur und Kulturevolution“ (12 S.); 1958/59.
„ Kulturwissenschaft – Kulturtheorie – Kulturgeschichte – Kulturpolitik“ (14 S.) 1962 o. 1963.

[13] Michael Franz: Der ‚Auszug der Ästhetik aus der Philosophie’. Philosophische Ästhetik auf dem Weg in die Interdisziplinarität. In: Denkversuche. DDR-Philosophie in den sechziger Jahren. Berlin (Links) 2005.
[14] Ich greife hier auf Überlegungen zurück, die ich 1996 in der Diskussion mit Philosophen erörtert habe: „Gestörte Vernunft. Gedanken zu einer Standortbestimmung der DDR-Philosophie. Hg. Von Hans-Jürgen Mende und Reinhard Mocek. Berlin (Edition Luisenstadt)1996; S.81-84.

[15] Dr. Angela Drescher ist Absolventin des Berliner Studiengangs Kulturwissenschaft.

[16] Aus dem Klappentext des Verlags.



 Vorträge 1
Günter Mayer (Foto: Scheel)

Günter Mayer

Kulturwissenschaft – zwischen Aufstieg und Auflösung


Liebe einmalig Einstige: Studentinnen und Studenten, Kolleginnen und Kollegen:

In der Berliner Fachrichtung „Kulturwissenschaft“ an der HUB, deren Aufstieg und Entwicklungsphasen bis hin zu ihrem Ende Dietrich präzise rekonstruiert hat, hatte die Ästhetik bekanntlich einen besonderen Stellenwert: sie war nicht nur sachlich die „Drehachse“ bei der Gründung, sie ist es auch personell bei ihrer Auflösung: die erste Absolventin im Jahre 1963 war Karin Hirdina. Sie hatte die sogenannte „Wende“ überstanden und erst 2006 die nicht mehr fortgeführte Professorenstelle für Systematische Ästhetik verlassen; Renate Reschke, Absolventin des ersten Matrikels 1964, hatte die sogenannte „Wende“ ebenfalls überstanden und wird im nächsten Jahr ihre Professorenstelle für Geschichte der Ästhetik verlassen, die erst 2009 wieder ausgeschrieben werden soll.

Daran wird aber eines ganz deutlich: eine solche kontinuierliche und kollektive Entwicklung dieses Faches in Lehre und Forschung hat es wohl vorher an keiner Universität gegeben und wird es höchst wahrscheinlich nicht wieder geben: Studierende sind zu Kollegen ihrer Lehrer Erwin Pracht und Wolfgang Heise geworden, haben zudem die Lehrgebiete ihrer

Lehrer nach deren Ausscheiden die gesamte Zeit ihrer beruflichen Entwicklung an einer Universität weitergeführt.

Das gilt auch für die anderen Mitglieder der „Berliner Ästhetik“, d.h. für Norbert Krenzlin, für Günter Mayer, nicht zuletzt für Ekkehard Hofmeister (wir waren überdies als Studenten der Philosophie in der zweiten Hälfte der 50er Jahre – mit Dietrich Mühlberg – in einem Seminar, zu welchem übrigens auch Rudolph Bahro gehörte).

Ganz wichtig und die gesamte Denkkultur prägend war Michael Franz durch seine Belesenheit und theoretisch-systematische Kompetenz. Und dann gehörten längere Zeit zum sogenannten Lehrkörper (als Lesende oder/und Seminarleiter) – alphabetisch – aus der älteren Generation Renate Cohn-Vossen, Horst Eckert, Arno Hochmuth, Waltraut Kropp, Waltraud Schröder, die „Gäste“ Gudrun Fischer, Günther K. Lehmann: und später aus der jüngeren Generation Jürgen Lüttich, Reinhard May, Gisela Müller, Jörg Petruschat, Ulli Roesner, Wolfgang Thierse, Achim Trebeß. Kurzzeitig sind auch andere „Gäste“ in der Lehre wirksam geworden: Wilhelm Girnus, Robert Weimann, Noyota Thun und Manfred Naumann – die bei uns im Prozess der Hochschulreform gewissermaßen kurzzeitig „geparkt“ waren.

Die weitgehend stabile personelle Konstellation und Zusammenarbeit hat sich auch insofern fruchtbar auf Lehre und Forschung ausgewirkt, als die (sozusagen) „Nebenfach-spezialisierung“ dieser Philosophen auf Literatur, Theater, Bildende Kunst, Musik, Formgestaltung bzw. Germanistik, Theaterwissenschaft, Kunstwisssenschaft, Musikwissenschaft in einem Wissenschaftsbereich konzentriert war. Was mit der Sektionsgründung, die im November 1968 stattfand, erreicht werden sollte, das philosophische Niveau der Kunstwissenschaften zu erhöhen, die hohe Philosophie durch ihre Annäherung an die Praxis der Künste zu qualifizieren, beide also einander wechselseitig näher zubringen – das hatten wir bereits in der personellen Konstellation des Wissenschaftsbereichs Ästhetik, ganz besonders in der unvergleichlichen Person Wolfgang Heises.

Und eine weitere, damit zusammenhängende Besonderheit möchte ich – gefragt nach dem Stellenwert der Ästhetik in der kulturwissenschaftlichen Ausbildung – hervorheben: Meines Wissens hat es in keiner anderen Universität im In- und Ausland (wo zur Ästhetik mal ein Semester etwas Ausgewähltes durch einen Fachvertreter angeboten wird) eine solche Vielfalt von aufeinander abgestimmten Lehrveranstaltungen zur Ästhetik gegeben wie an der HUB, und zwar im Direktstudium wie im Fernstudium.

Erinnert Euch: es gab durchgehend Vorlesungen und Seminare zur Systematischen Ästhetik, zur Geschichte der Ästhetik, zur modernen bürgerlichen Ästhetik; zur Kultur- und Kunstpolitik, zur Kunstsoziologie, spezieller zur Sprache der Künste, zur ästhetischen Kultur der Moderne, zur semiotischen Ästhetik, zur Umweltästhetik, nach 1990 zur Ästhetik der analogen Medien, zur Ästhetik der digitalen Medien; Oberseminare zum „Kitsch“, zum „Ekel“, zum „Licht“, usw. Schließlich haben wir seit der Gründung der Sektion für alle Studenten, also auch der Kunst-, Musikwissenschaft und der klassischen Archäologie ein zweijähriges, einheitliches kulturtheoretisch-ästhetisches Grundstudium mit Vorlesungen und Seminaren sowie einer langen Reihe von Lehrbriefen angeboten. Es sollt dies die m-l. Kulturtheorie und die Theorie des sozialistischen Realismus vereinen und in die Theorie und Praxis sozialistischer Kultur- und Kunstpolitik einführen. Und da gab es noch ein Lehrbrief-Programm für 30 Konsultationen zur Vermittlung der Grundlagen der marxistisch-leninistischen Ästhetik. Besonders die Arbeit an den Lehrbriefen war der Entwicklung kollektiven Denkens und Arbeitens förderlich. Und bekanntlich hatte manch einer große Schwierigkeiten, nach längerer Zeit der Ermahnung etwas Brauchbares abzuliefern.

Was Dietrich in seiner einleitenden Übersicht im Hinblick auf die Kulturtheorie an Entwicklungsphasen unterschieden und beschrieben hat, lässt sich auch im Hinblick auf die Ästhetik etwa in ähnlicher Weise beschreiben, oder wenigstens grob andeuten:

Auch für die Ästhetik lassen sich vier Phasen grob unterscheiden.

In den ersten Jahren der Arbeit am Studienplan, ab 1964 also, standen wir nicht nur vor der Frage, was eine philosophische Ästhetik mit der Kulturrevolution zu tun habe, was daraus für die Ausbildung künftiger Kulturfunktionäre folge. Das war ja zugleich die Frage, über was für eine Ästhetik wir damals verfügen konnten. Dietrich hat diese Anfangsphase für die Kulturtheorie so charakterisiert: was entwickelt wurde, war durch politische Maximen und einen dogmatisch verengten Marxismus geprägt, aber die Dogmen waren so sicher und verbindlich nicht formuliert, denn der XX. Parteitag habe die politische Strategie interpretierbar gemacht und es wurden Texte der Klassiker bekannt, die alles in einem neuen Licht erscheinen ließen.

Ich sehe das für die Ästhetik etwas anders. Die politischen Maximen gab es, aber die waren sehr allgemein, d.h. durch uns relativ selbständig interpretierbar. Und so verengt dogmatisch war der Marxismus für uns ehemalige Philosophiestudenten nicht: wir hatten solche Lehrer wie Georg Klaus, Marie Simon, Wolfgang Heise, waren zudem vom M-L-Grundstudium befreit und schon früh auf die Frühschriften hingelenkt worden. Kunstpolitische Kämpfe gegen den „Formalismus“ gab es bei uns nicht. Im Gegenteil: Ich erinnere mich, dass ich im Fernstudium schon von Anfang an die als formalistisch verurteilte Lukullus-Oper von Paul Dessau analytisch vorgeführt habe, in der Reihenfolge: ZK-Beschluss – Werkanalyse – ZK-Beschluss. Dessen Falschheit war offensichtlich, bzw. offen“ohrig“ nachvollziehbar gemacht worden.

Zugleich muss ich sagen: Der XX. Parteitag hat uns sehr erschüttert, aber für die meisten von uns die politische Strategie noch nicht interpretierbar gemacht. (die 1968-er Ereignisse in der

Tschechoslowakei und in der BRD und Frankreich gab es noch nicht). Jedenfalls wähnten wir uns ungebrochen auf der Straße der Sieger der Geschichte und hatten eine dementsprechend herablassende Haltung gegenüber der „bürgerlichen“ Wissenschaft, die ja als zurückgeblieben beurteilt und nicht sonderlich ernst genommen wurde.

In der Ästhetik haben wir in den ersten Jahren nach 1964 durchaus Formen eines Ableitungsmarxismus mit scholastischen Zügen weniger selbst gehabt als vielmehr vorgefunden: es sei erinnert an Walter Besenbruchs Beiträge zur Ästhetik, besonders zum Typischen, an Horst Redekers Begriffskonstruktionen oder an die Texte von Erhard John (Leipzig). Die sind bei uns nicht angenommen und vermittelt worden. Im Gegenteil: nach der vernichtenden Kritik Besenbruchs, die Wolfgang Heise schon 1957 formuliert hatte, war diese Scholastik für uns erledigt. Unsere diesbezügliche herablassende Überlegenheit haben wir damals wohl auch auf die Studierenden dauerhaft übertragen.

Was wir anfangs hatten, waren die verfügbaren Texte der Klassiker und die sehr systematisch aufgebauten, praxisfernen Vorlesungen von Moisej Samoilowitsch Kagan, (der sogar mal eine Gastvorlesung bei uns gab) und einige Texte von Burow, Nedoshiwin und Stolowitsch.

Zur Distanzierung von der Leipziger Ästhetik und der Berliner Instituts für Philosophie (Redeker), kam bald die Distanzierung von der sowjetischen Ästhetik – in der Lehre und dann als ausgeführte Analyse und Kritik in „Ästhetik heute“, in der Kollektivarbeit unter der Leitung von Erwin Pracht, die 1978 erschien.

Das gehört nun bereits zur zweiten Phase, zur Phase nach 1968/70 bis Anfang der 80er Jahre. In dieser gab es eine veränderte Situation: die Krisenerfahrung des 1968 niedergeschlagenen Ansatzes zu einer Demokratisierung der sozialistischen Gesellschaft und die aus der Studentenbewegung in der BRD seit 1968 hervorgehenden Impulse zu einer Vitalisierung der geschichtsmaterialistischen Denkbewegungen im Hinblick auf eine neue Qualität der Kapitalismus-Kritik und die Wiederentdeckung revolutionärer Ansätze in der frühen Sowjetunion. (Stichworte: Produktionsästhetik, Avantgarde-Kunst).

Damit ergaben sich für die Ästhetik in Forschung und Lehre bemerkenswerte Akzent- und Schwerpunktverschiebungen.

Die im November 1968 gegründete Sektion Ästhetik und Kunstwissenschaften, in welcher die Ästhetik nun im Bereich „Kulturtheorie und Ästhetik“ eine selbständige Arbeitsgruppe bildete, war von den leitenden Partei- und Hochschulorganen darauf orientiert worden, die Theorie des sozialistischen Realismus zum verbindenden Zentrum für die Wissenschafts- und Lehrkonzeptionen der einzelnen Disziplinen der Sektion zu machen. Dieser Aufgabe hat sich Erwin Pracht gestellt – weniger aus Neigung denn aus politischer Disziplin und Verantwortungsbewusstsein für die Sektion, deren erster Direktor er war. (Er hätte lieber zur Geschichte der Ästhetik gearbeitet). Er hat in vielen Arbeiten versucht, die historischen Besonderheiten dieser Kunstprogrammatik und künstlerischen Methode, nicht zuletzt mit der Erschließung des Brecht’schen Erbes theoretisch zu fundieren und sie für Künstler akzeptabel zu machen – in einer Situation, in welcher die politisch wachen Künstler gegenüber den diesbezüglichen kunstpolitischen Forderungen der Partei und der Verbände bereits zu nehmend distanziert sich verhielten.

Für die Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Ästhetik insgesamt rückten andere Schwerpunkte ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Ästhetik wurde einerseits in die aktuellen weltanschaulich-ideologischen Auseinandersetzungen gestellt. Wie in der Kulturtheorie, wurden nun die gesellschaftlichen Zusammenhänge der Individualitätsentwicklung und –ansprüche wesentlich – und zwar im kritisch-rezeptiven Bezug auf die Konzeption vom „Realismus ohne Ufer“, auf die Neue Linke, auf Adorno, Marcuse, Schneider, auf die Tendenzen einer materialistischen Ästhetik in der BRD – und in der Aneignung der Arbeiten von Lucien Sève, Klaus Holzkamp, Charles S. Peirce, d.h. der Persönlichkeitstheorie, der kritischen Psychologie, der Zeichentheorie.

Andererseits ist der Kunstzentrismus der Ästhetik überwunden, ihre Verabschiedung von der vorindustriellen Phase vollzogen worden: durch die Hinwendung zur ästhetischen Gestaltung der Umwelt, zur Bauhaus-Rezeption, zur Industrieformgestaltung, zur Produktionsästhetik (Arvatov), zur „Warenästhetik“ (Haug) und die daraus folgenden Konsequenzen für die notwendige Erweiterung des Kunstbegriffs, des Begriffs der ästhetischen Kultur und für die prinzipielle meta-theoretische Frage nach den Grundbestimmungen ästhetischer Wertung überhaupt: da wurde bekanntlich der sogenannte Grundwiderspruch zwischen Gebrauchswert und Gestaltwert angeboten: umstritten und – leider nicht weiter ausgearbeitet. Diese Wende ist bekanntlich in dem Kollektivprodukt „Ästhetik heute“ zu besichtigen, für deren Zustandekommen die Aneignung der grundlegenden Arbeiten von Lothar Kühne besonders hervorgehoben sei. Sie wurde unter der Leitung von Erwin Pracht vollzogen, ungeachtet dessen, dass er und Wolfgang Heise der herausragenden Bedeutung Kühnes zunächst sich kaum bewusst geworden waren. Wohl aber Heinz Hirdina, der an „Ästhetik heute“ mitgeschrieben hat, mir auch und den Jüngeren wie Petruschat und Trebeß.

Wurde die Kulturtheorie in diesem Zeitraum durch die Hinwendung zur Freizeitforschung, zu Ethnologie, Volkskunde, Arbeiterkulturforschung geschichtlich und empirisch an gegenwärtige und geschichtliche Praxen angeschlossen, so haben die Ästhetiker ihre Praxen in persönlichen Kontakten mit engagierten, umstrittenen Künstlern, in den Kunstwissenschaften, in den Künstlerverbänden, im Kulturbund und nicht zuletzt im Festival des politischen Liedes, mit dem Oktoberklub und KarlsEnkel vertieft (Kirchenwitz, Körbel, Wenzel, Mensching). Eine eigene Zeitschrift haben wir erst Ende der 80er Jahre dank der Initiative von Jörg Petruschat und Achim Trebeß zustandegebracht.

Was Dietrich für die dritte Phase ab 1983 bis 88/89 festgestellt hat, gilt natürlich, was die veränderte Situation angeht, ebenso für die Ästhetiker: die prekäre gesellschaftliche Situation wurde langsam bewusst, es begann eine nüchterne und radikale Kritik an der Stagnation und der Realitätsentfremdung der Politbürokratie. Es sei nur erinnert an die Wirkungen der Perestroika-Politik und die Reaktionen der Führung, an die direkte Konfrontation der Ästhetiker mit der Abteilung Wissenschaft wegen des Einspruchs gegen die Informationspolitik, gegen das Sputnik-Verbot, an die Kritik der Praxis der Massenmedien per Aktualisierung der Brecht’schen Radiotheorie und Enzensbergers „Baukasten zu einer Theorie der Medien“ im Brecht-Dialog 1988 und 1990.

In der Ästhetik wurde eine neue Schwerpunktverschiebung vollzogen. Die Ergebnisse dessen sind deutlich abzulesen in der zweiten Kollektivarbeit unter Leitung von Erwin Pracht: in der „Ästhetik der Kunst“, die 1987 erschien. Nun ging es um Kunstprozess und Öffentlichkeit, um die Medienrevolution und den Kampf um kulturelle Identität, schließlich kritisch um Grundfragen der Massenkultur (denen sich auch Norbert Krenzlin widmete), um eine bewusst utopische, alternative Programmatik sozialistischer Massenkultur, als deren Zentrum die politische Kultur bezeichnet wurde. Es ist kein Zufall, dass nun die Ergebnisse eines differenzierenden Verhältnisses zur Avantgarde-Kunst zusammengefasst worden sind, der Wahrheitsanspruch der Künste im Kontext einer „Ästhetik des Widerstands“ thematisiert, ästhetische Wertkategorien im Kontext von Konfliktverhalten reflektiert worden sind. Schließlich ist die Realismus-Problematik im Hinblick auf geschichtliche Veränderungen im System und den Wechselbeziehungen der Künste, im Wirklichkeitsverständnis, Realismus contra Idealisierung analysiert worden. Nun kam auch der sozialistische Realismus wieder vor, als historisch sich wandelnde Funktionsbestimmung klasseneigener Kunst: ein bereits zu spät kommender Versuch, von der offiziell längst abgelegten Phraseologie wenigstens das Wesentliche der eigentlichen Grundproblematik zu retten. Dieses Schlusskapitel war angesichts der drohenden Schließung, von der Dietrich berichtet hat, eher eine Bekundung prinzipientreuer, ideologischer Zuverlässigkeit, um wenigstens die bereits angedeuteten aktuellen Schwerpunkte durch die aufmerksame Abteilung Wissenschaft, an dem Virus der Hannelore Vierus vorbei zu manövrieren.

In dieser Phase gelang es Jörg Petruschat und Achim Trebeß, das eigene „organ für ästhetik“ zu realisieren und bis in die Mitte der 90er Jahre zu halten, darin also auch die Vorgänge der vierten Phase, der Reformphase ab 1988/90 zu dokumentieren.

Zu dieser nur einige wenige abschließende Anmerkungen: Um der mit dem Anschluss der DDR an die BRD und der von dieser ausgehenden Politik der „Christianisierung“ der Universitäten mit möglichst wenigen Verlusten zu begegnen, führten bei uns zu mehr und mehr individuellen Versuchen, die Ausbildungsprogramme auf die veränderten Bedingungen umzustellen: auf eine sich umschichtende Studentenschaft und neue technische Möglichkeiten. Ich habe das Ausbildungsprofil „Künste und Medien“ entworfen und bis zu meinem Ausgeschiedenwerden 1994 auf verschiedenen Ebenen praktiziert. Es hatte gegen die auf meine umprofilierte Stelle berufene „West-Autorität“ Friedrich Kittler auf Dauer keine Chance. Auch unsere Konzeptualisierung der Spezifik des Ästhetischen, an der Michael Franz 1993 und 1995 festgehalten hat und die ich noch auf den Kongressen der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik 1996 und 1999 verteidigt habe, ist vom Fundamentalismus der Wahrnehmungsästhetiker à la Wolfgang Welsch, Siegfried J. Schmidt, Friedrich Kittler – aber auch Karlheinz Barck – letzten Endes überrollt worden und liegen geblieben, liegen gelassen worden.

Die frühere gemeinsame Verantwortung für die Positionierung des Faches im Ausbildungskonzept, die gemeinsame, politisch wache und solidarische Produktivität ist verschwunden worden. Das ist nun nicht weiter zu kommentieren.

Jedenfalls: die Studierenden der verschiedenen Jahrgänge sind in ihrer Ausbildung an diesen Entwicklungsprozessen und –phasen der Ästhetik mehr oder weniger beteiligt worden. Ich glaube, wir hatten in der Vermittlung von Wissen (auch über internationale Entwicklungen und Positionen) ziemliche Lücken und wohl eher Erfolg in der Vermittlung von theoretisch begründetem Problembewusstsein mit der Chance für disponible und mitunter Konflikte provozierende Verwendung in der späteren beruflichen Praxis. Darüber uns auszutauschen, haben wir ja hier genügend Gelegenheit.

Gestattet mir zum Abschluss einen kurzen dokumentarischen Beleg für die langdauernden Wirkungen unserer Ausbildung, der im Sommer 2000 zufällig bei Dreharbeiten entstand und danach einen musikalischen Gruß zum Ende der einst so vielseitig aktiven Fachrichtung „Kulturwissenschaft“ (DVD 1 und DVD 2).



 Vorträge 1
Irene Doelling (Foto: Scheel)


Irene Dölling

Kultur(theorie) und Individuum

1. Beginn

Ich habe im Frühsommer 1966 mein Studium der Bibliothekswissenschaft und der Philosophie mit dem Staatsexamen bzw. dem Diplom abgeschlossen und fing im September 1966 als Aspirantin (Doktorandin) im Institut für Kulturtheorie und Ästhetik zu arbeiten an. Ich war der Gruppe um Dietrich Mühlberg zugeteilt, sollte mich also künftig mit Kulturtheorie beschäftigen. Dietrich Mühlberg hatte kurz vorher einen Artikel veröffentlicht, in dem er begründete, weshalb er es für sinnvoller hielt, zwischen objektiver und subjektiver Kultur als zwischen materieller und geistiger Kultur zu unterscheiden, wenn es darum ging, ein theoretisches Konzept von Kultur und einen angemessen konstruierten Kulturbegriff zu entwickeln. Gleich in den ersten Tagen am Institut drückte er mir eine ziemlich lange Liste mit Buchtiteln in die Hand: sie reichte von Hannah Arends „Vita activa“ über Helmut Plessners „Lachen und Weinen“, Adolf Portmanns „Zoologie und das neue Bild vom Menschen“, Arnold Gehlens und Michael Landmanns anthropologische Schriften bis zu den ersten Veröffentlichungen der Jenenser Sozialpsychologen um Hans Hiebsch und den Büchern von Rubinstein und Leontjew, soweit die Arbeiten der beiden bekanntesten Vertreter der sowjetischen Psychologie damals in der DDR veröffentlicht waren. Verbunden war dies mit dem Auftrag, mir diese Sachen mal anzuschauen unter dem Gesichtspunkt, welche Anregungen sie geben könnten für eine Kulturwissenschaft bzw. Kulturtheorie, die den Individuen, ihrer Gesellschaftlichkeit und Subjektivität, der Eigenart und Eigenlogik ihres Handelns angemessen Rechnung trägt.

An der Buntheit der Bücherliste und an der Formulierung der Arbeitsaufgabe lässt sich in nuce ablesen, was Merkmal der DDR-Kulturwissenschaft war bzw. was ihr konzeptionelles Grundverständnis ausmachte.

Ihre Besonderheit – die sie im Übrigen mit vielen Disziplinen teilt, die sich neu im Wissenschaftsfeld zu etablieren suchen – war ihre Offenheit für Erkenntnisse und Perspektiven verschiedener Wissenschaften, war ihr Arbeiten „zwischen den Disziplinen“.

Zu ihren Grundannahmen gehörte, dass sie ohne ein Verständnis individuellen Handelns, individueller Subjektivität ihre Gegenstände nicht hinreichende konstruieren kann. Zu den wissenschaftlichen Anstrengungen der angehenden ‚Kulturtheoretiker’ gehörte deshalb von Anfang an die Arbeit an einem persönlichkeitstheoretischen Konzept, das einerseits eng mit dem historischen Materialismus, mit einer materialistischen Gesellschaftstheorie verknüpft ist bzw. dieses als unabdingbares Element einer materialistischen Gesellschaftstheorie versteht und andererseits individuelles Handeln bzw. Verhalten nicht schlicht als Verdopplung der Verhältnisse, nicht als mechanische ‚Widerspiegelung’ objektiver Bedingungen oder als Resultat einer linearen Determination begreift.

Damit richtete sich der Blick zum einen auf die konkreten Lebensbedingungen nicht sozial positionierter Individuen, also darauf, wie gesellschaftliche Verhältnisse konkret erfahren werden und Handlungsspielräume eröffnen oder begrenzen und zum anderen darauf, wie diese konkreten Bedingungen subjektiv angeeignet und ‚verarbeitet’ werden, welche ‚andere’ Gestalt sie in diesem Prozess annehmen. Tendenziell wurde damit auch möglich, den Widerspruch zwischen den allgemein proklamierten Errungenschaften ‚des Sozialismus’ und den empirisch aufweisbaren ungleichen Lebensbedingungen (nicht zuletzt auch zwischen den Geschlechtern) bzw. deren keineswegs immer persönlichkeitsfördernden Auswirkungen auf die Individuen als Spannungsverhältnis und Motivation wissenschaftlichen Arbeitens produktiv zu machen.

Verbunden war damit zwangsläufig der Blick auf Zusammenhänge und Bedingungen, die im Kanon des Historischen Materialismus keine Rolle spielten – etwa die damals so genannte ‚biologische Konstitution’ (heute Körperlichkeit), Sexualität, Geschlechterdifferenzen bzw. –ungleichheiten, aber auch kulturelle Formen, die jenseits einer ‚wissenschaftlichen Weltanschauung’ als praktizierte Weltsicht das Alltagshandeln von Individuen, ihre unmittelbaren Beziehungen orientieren (wir nannten diese Formen in Anlehnung an Marx Formen ‚praktisch-geistiger Aneignung der Welt’).


2. Kontexte

Offenheit gegenüber Perspektiven und Erkenntnissen anderer Disziplinen und die skizzierten konzeptionellen Grundannahmen sowie die wissenschaftliche Herkunft der ersten ‚Generation’ der KulturtheoretikerInnen zeitigten eine bestimmte Affinität für Fragestellungen und Strömungen im Wissenschaftsfeld der 70ger und 80ger Jahre, das für uns keineswegs auf die DDR beschränkt war.
Dazu gehörten etwa:

Eine starke Nähe zur (marxistischen) Philosophie, nicht zuletzt bedingt dadurch, dass viele von der Philosophie kamen. Eine Tendenz zu abstrakt-theoretischen Herleitungen, eine Vorliebe, sich in schwindelnder theoretischer Höhe mit der Frage nach dem ‚Verhältnis von Individuum und Gesellschaft’, nach der ‚Leerstelle Individuum’ im Marxismus zu beschäftigen und daraus kühne Schlussfolgerungen für die sozialistische Kulturrevolution und die sozialistische Persönlichkeit zu ziehen, ist unübersehbar.

Wichtiger Bezugspunkt war die Psychologie, waren insbesondere die Arbeiten der sowjetischen, später auch der marxistisch orientierten Kritischen Psychologie um Klaus Holzkamp. Sie lieferten wichtige Einsichten in die Eigenart des Psychischen wie - untrennbar davon - in seine gesellschaftlich-historische Gestalt und gaben Anregungen für ein Konzept historischer Individualitätsformen.

Von Anthropologie und Sexualwissenschaft kamen Anregungen für das Verständnis der Besonderheiten der körperlichen Existenzweise des Sozialen, für die Bedeutung der Körperlichkeit der Individuen, in den 80ger Jahren dann auch von der entstehenden Frauenforschung für ein gesellschaftstheoretisch fundiertes Verständnis von Geschlechterverhältnissen.

Die mit der westdeutschen Studentenbewegung verbundene Wiederentdeckung der Schriften Wilhelm Reichs, der Debatten um das Verhältnis von Marxismus und Psychoanalyse in den 20ger Jahren bis zu den Debatten in der BRD und in Frankreich in der 70ger Jahren über Sexualität als Herrschaftsverhältnis, über das Wirken von Herrschaftsverhältnissen in und mittels Sexualität bei der Konstituierung der Gesellschaftlichkeit und Subjektivität der Individuen, schließlich die Ideen von einer ‚befreiten Sexualität’ als Bedingung und Element einer freien Gesellschaft lieferten Einsichten in komplexe Zusammenhänge von objektiver und subjektiver Existenzweise des Sozialen.

Soziologische Konzepte, wie das von Norbert Elias oder Pierre Bourdieu, die die abstrakte Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft (und die damit notwendige ‚Vermittlung’ zwischen diesen beiden Polen) mit Begriffen wie ‚Figuration’ oder ‚praktischer Sinn’/praxeologische Erkenntnis aufbrachen boten eine über den ‚doxischen’ Marxismus hinausweisende Interpretationen des Sozialen und seiner eigenlogischen Existenz im praktischen Handeln von AkteurInnen an und erleichterten die stärkere Hinwendung zur Empirie.


3. Ambivalente Ergebnisse

Im Rückblick, mit einem Abstand von 15 Jahren und in einem veränderten Wissenschaftsfeld zeigt sich ein ambivalentes Bild.

Einerseits dominierte das abstrakte Theoretisieren, das kaum über den damals in der DDR hegemonialen Ableitungsmarxismus hinaus kam – letztlich wurde doch alles aus ökonomischen Verhältnissen hergeleitet bzw. begründet und blieb die Eigenart des Kulturellen und seiner Wirkungen bei der Konstituierung individueller Subjektivität eher unterbelichtet. Andererseits stand gewissermaßen quer dazu der Versuch, die Komplexität und Eigenart des Individuellen in den Blick zu nehmen und als Kriterium für die Analyse der (sozialistischen) Gesellschaft produktiv zu machen und damit – zumindest ein Stück weit – konträr zu den gängigen Interpretationen des Historischen Materialismus zu stehen.

Einerseits der Versuch, mit der Einbeziehung konkreter Lebensbedingungen und von Bedürfnissen/Interessen der Individuen als ihren praktischen Stellungnahmen zu diesen Bedingungen das abstrakt-philosophische Her- und Ableiten abzulegen und stärker sozialwissenschaftlich zu argumentieren. Andererseits konnte – nicht zuletzt wegen einer fehlenden eigenen, methodisch fundierten Empirie – das Niveau abstrakt-theoretischen Konstruierens nicht wirklich überwunden werden (erinnert sei etwa an die abstrakten Bestimmungen und Herleitungen von Individualitätsformen, von sinnlich-vitalen und produktiven Bedürfnissen)

Einerseits der Versuch, im Zusammenführen verschiedener wissenschaftlicher Ansätze ein Konzept individueller Vergesellschaftung, das der Eigenlogik des Individuellen gerecht wird und dessen Herausbildung gesellschaftstheoretisch begründet, nach den gängigen Kriterien wissenschaftlichen Arbeitens und wissenschaftlicher Wissensproduktion zu entwerfen. Andererseits ist das beständige Verletzen dieser wissenschaftlichen Standards zu konstatieren, indem diese sowohl durch normative Kriterien (des Ideals einer kommunistischen Gesellschaft) als auch durch die Respektierung politisch-ideologischer Vorgaben unterlaufen und konterkariert wurden. Das macht es schwer, aus heutiger Perspektive die Wissenschaftlichkeit der Texte auszumachen – wenngleich ihre Wirkungen im damaligen allgemein-gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Kontext mit einer solchen Feststellung nicht vollständig erfasst werden können.

Einerseits die Offenheit gegenüber allen möglichen wissenschaftlichen Konzepten und Debatten; wir waren keineswegs auf orthodox marxistische Texte fixiert und pflegten wissenschaftliche Kontakte zu allen möglichen Leuten ‚im Westen’. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass etliche (und hegemoniale) Diskurse (Anti-Strukturalismus, Dekonstruktivismus, Ethnomethodologie) im internationalen Wissenschaftsfeld insbesondere der 80ger Jahre an uns vorbei, was die Abwertung der DDR-Kulturwissenschaft nach 1990 durchaus erleichtert hat.


4. Fazit

Die Bilanz fällt im Rückblick und aus heutiger Perspektive also durchaus zwiespältig aus. Zum einen, wie gerade ausgeführt, ist eine mangelnde Wissenschaftlichkeit und Internationalität zu konstatieren. Zum anderen aber hat dieser Mangel nicht ausgeschlossen, dass Kulturwissenschaft bzw. konkreter: KulturwissenschaftlerInnen durchaus in der Lage waren (nicht erst nach 1990, aber besonders nach ihrer ‚Abwicklung’), neue Ansätze und Fragestellungen aufzugreifen und dazu Position zu beziehen bzw. Anschluss an dann hegemoniale wissenschaftliche Diskurse zu finden. Dabei ist ihr bzw. ihnen durchaus zugute gekommen, dass die Reflexion des Verhältnisses von Individuum und Kultur in der DDR-Kulturwissenschaft immer stark gesellschaftstheoretisch und sozialwissenschaftlich/-historisch orientiert war. Ich denke dabei vor allem an

den Anschluss an die Frauen- und Geschlechterforschung, wo wir mit unserem Verständnis von Geschlechterverhältnissen als Resultat und Bewegungsform gesellschaftlicher Produktions- und Austauschprozesse sowie von Geschlechterordnungen als Teil von Kultur durchaus einen eigenständigen Beitrag zum Verständnis von Geschlechterverhältnissen in der sozialistischen Variante der Moderne geleistet haben;

an den Beitrag zur Erforschung der Transformationsprozesse in Ostdeutschland – insbesondere was das (empirisch fundierte) Herausarbeiten des Eigen-Sinns angeht, mit dem in der DDR sozialisierte Frauen und Männer mit den veränderten Bedingungen umgehen;

an die von Klaus Eder im Anschluss an Bourdieus Praxeologie so benannte ‚kulturtheoretische Wende der Sozialwissenschaften’, mit der der sozialwissenschaftliche Blick stärker auf kulturelle Formen des Klassifizierens, auf ihre Existenz als habituelle Dispositionen und auf ihre Rolle bei der alltäglich-praktischen Hervorbringung/Reproduktion des Sozialen gerichtet wurde.




 Vorträge 1
Wolfgang Jacobeit (Foto: Scheel)

Wolfgang Jacobeit

Volkskunde und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin


Erlauben Sie eingangs folgende schlichte Feststellung: Dietrich Mühlberg hat uns hier zusammengerufen, um gemeinsam des Beginns kulturwissenschaftlicher Forschung und Lehre an der HUB vor 44 Jahren zu gedenken. Wir, die Volks- und Völkerkundler an der gleichen Institution, könnten in diesem Jahr 2007 ein Ähnliches tun, nur mit dem Unterschied, dass unsere Disziplin - die Volks- und Völkerkunde - bereits vor 55 Jahren an der HUB neu begründet wurde. Aber unsere Reihen haben sich im Lauf der Jahre stark gelichtet, so dass wir an eine solche Veranstaltung gar nicht denken können, jedoch nicht versäumt haben, uns anlässlich des 100. Geburtstags von Wolfgang Steinitz 2005 im Institut für Europäische Ethnologie unserer Universität zu einem wissenschaftlichen Kolloquium zusammenzufinden. Selbstverständlich nahmen daran die "Spitzen der Kuwis“ teil.

Dennoch bleibt die Relevanz des hier und heute abzuhandelnden Themas „Volkskunde und Kulturwissenschaft an der HUB“ erhalten, und das galt auch schon für den Beitrag von Ute Mohrmann und den beiden Jacobeits (Sigrid und Wolfgang Jacobeit) in der Festschrift für Dietrich Mühlberg 1996. Namentlich Ute Mohrmanns Abhandlung hat sich der Situation einer Kooperation zwischen Kulturwissenschaft und Volkskunde aus der Sicht von damals gewidmet und hieß „Volkskunde neben und mit der Kulturwissenschaft“.

Das war vor allem ein wissenschaftsgeschichtlicher Beitrag zur DDR-Volkskunde, die ja keineswegs eine solche Einheit gewesen ist, wie z.T. noch heute angenommen wird. Es gab vielmehr zwei - an der Humboldt-Universität (HUB) und an der Deutschen Akademie der Wissenschaften (DAW) - etablierte Institutionen, die theoretisch und methodisch unterschiedliche Wege in der Forschung gingen. Beide hatten zwar die gleiche Ausgangsposition - und das war die von Wolfgang Steinitz formulierte Gegenstandsbestimmung der Volkskunde als einer historisch-kulturgeschichtlichen Disziplin von den werktätigen Klassen und Schichten unter den jeweiligen historisch-sozio-ökonomischen Bedingungen. Die Bedeutung seiner „Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten“ als Standardwerk für eben eine neue Volkskunde nach dem nazifaschistischen Chaos ist in diesem hier versammelten Kreis bekannt und muss nicht resümiert werden, aber wie nahmen die Volkskundler an HUB und DAW diese Gegenstandsbestimmung auf, wie verarbeiteten sie diese? Grundsätzlich und insofern positiv, als sie darin eine berechtigte Erweiterung ihrer traditionellen Fachgebiete sahen und dies in zahlreichen Publikationen zur Volkslied- und Volkserzählforschung, aber auch zur so genannten materiellen Volkskultur zum Ausdruck brachten. In keiner Weise soll hier die Bedeutung dieser Forschungen - letztlich auch im internationalen Rahmen - abgesprochen werden. Aber das eigentliche historische Moment, das in der Gegenstandsbestimmung von Wolfgang Steinitz enthalten war, spielte nur eine marginale Rolle. Das hatte zur Folge, dass z.B. volkskundliche Beschäftigungen mit Lebensweise und Kultur des Proletariats, der Arbeiterklasse, noch kaum thematisiert wurden, und Gleiches galt auch für Untersuchungen zur sozialistischen Gegenwart

Das geschah dann erst seit den 1960er Jahren, also der Zeit, in welcher Dietrich Mühlberg die „Kulturwissenschaft“ an der HUB zu etablieren begann. In den „Kuwis“, wie sie sich heutzutage nennen, fanden Volkskundler mit einem ausgeprägteren Sinn für Historizität - namentlich solche an der HUB - Bundesgenossen. Aber hinzu kamen auch Anregungen aus dem Akademie-Institut für Wirtschaftsgeschichte bzw. der Geschichte der Produktivkräfte und von Jürgen Kuczynski („J.K“.) überhaupt; Beziehungen, die für mich noch heute existieren...

Damit sei auch schon auf die mehrjährigen Forschungen der Volkskundler - und zwar aus HUB und DAW - über die Geschichte der werktätigen Bevölkerung in der Magdeburger Börde vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zum Anfang der 1960er Jahre - in fünf Bänden verwiesen. - In der kulturhistorisch-volkskundlichen Aussage noch ausgeprägter erwies sich die dreibändige „Illustrierte Alltagsgeschichte des deutschen Volkes“ von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis 1945 beider Jacobeits. Programmatisch war zuvor die 1967 von Paul Nedo initiierte internationale Tagung „Probleme und Methoden volkskundlicher Gegenwartsforschung“; programmatisch deshalb, weil mit dieser Thematik in gewisser Weise der offiziöse Anschluss an die Entwicklungstendenzen der internationalen Forschung vollzogen und die divergierenden Auffassungen vom Gegenstand des Faches und seinen Aufgaben in beiden Institutionen - HUB und DAW - deutlich wurden. Wesentlich ist noch die große Anzahl von Examensarbeiten, z.T. bis zu Dissertationen, von unseren Fernstudenten, die ganz im Sinn der „neuen“ Volkskunde eine interdisziplinäre Ausbildung erhielten und damit in ihren Berufen - meist als Museologen - erfolgreich tätig wurden. Wenn ich mich recht erinnere, haben Kuwis und HUB-Volkskundler auch gemeinsame Lehrveranstaltungen abgehalten, vor allem aber mit Feldforschungen in Berlin-Mitte zur Vorbereitung der in den Staatlichen Museen zu Berlin erarbeiteten Ausstellung „Großstadtproletariat. Zur Lebensweise einer Klasse“, zusammen agiert.

Soweit dieser kurze Überblick bzw. die Erinnerung an „Volkskunde neben und mit der Kulturwissenschaft“ in der DDR; eine Entwicklung, die dem Trend der westlichen Forschung nach der „Wende“ durchaus entgegen kam, was aber lange Zeit als so genanntes östliches Substrat kaum wahrgenommen wurde. Hierüber und manches andere Missliche mag ich mich - zumal als Emeritus seit 1986 - nicht mehr äußern, wohl aber betonen, dass wir die Berufung von Wolfgang Kaschuba als Ordinarius für Europäische Ethnologie an der HUB begrüßt haben, denn wir (bzw. ich) hatten schon Jahre vor 1989/90 des öfteren Gelegenheit, unsere gleichen Auffassungen zur Situation und zur Entwicklung unserer Disziplin gegenseitig zu bestätigen.

Unser (beider Jacobeits) nach der „Wende“ notwendig gewordener Abschied von Berlin brachte leider eine gewisse Trennung von den Diskussionen um den Gegenstand von Volkskunde und Kulturwissenschaft, von Historiografie überhaupt, vom Für und Wider interdisziplinärer Methodik usw. mit sich. Das war und ist bedauerlich, hat uns aber nicht davon abgehalten, neue Forschungsfelder in einer anders gewordenen Welt nach der „Wende“ zu entdecken. Das war ein Prozess des Suchens, Abwägens, auch des theoretischen Überprüfens, der sich so gut wie selbstverständlich thematisch auf den Boden der alten DDR bezog. Und hier trifft der Titel der Mühlberg-Festschrift von 1996 zu, der da lautete: „Vorwärts und nicht vergessen nach dem Ende der Gewissheit“, aber auch jene Überschrift über unseren eigenen Beitrag ebenda fand eine Bestätigung: „Volkskunde in der DDR - kein Blick zurück im Zorn.“ Das bedeutete mit anderen Worten eine Weiterführung unserer Forschungen nach der „Wende“. Einen etwaigen Mangel an theoretischen Grundlagen empfanden wir um so weniger, als wir mit unseren bisherigen Überlegungen auf das neue Geschehen durchaus reagieren zu können meinten, aber uns auch den Gedanken von J.K. (Jürgen Kuczynski) abermals nützlich machten, den er gleich in der Einleitung zu seiner fünfbändigen „Alltagsgeschichte des deutschen Volkes“ geäußert hatte. Da hieß es, „daß wir Historiker weit, weit mehr Aufmerksamkeit dem Alltagsleben der Menschen in all seiner Vielfältigkeit, in der Gegenwart wie in der Vergangenheit zuwenden. Wie viele ‚Disziplinarprobleme‘ werden sich dann lösen.“ (Bd. 1, 1980, S. 123). Die Reaktionen in Ost und West auf die von uns nunmehr bevorzugte Alltagsproblematik im Allgemeinen und auf Kuczynskis Diktum im Besonderen, waren zumindest am Anfang ignorierend oder ablehnend, was uns nicht hinderte, dennoch daran festzuhalten. So war es dann so gut wie selbstverständlich, dass die mit Sigrids (Jacobeit) Leitungstätigkeit in der „Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück“ (1992-2005) beginnenden Forschungen und Ausstellungen zur Geschichte dieses größten Frauen-KZ in Nazideutschland sowie insbesondere zum Alltag und zu den Verhaltensweisen der Zehntausenden von deportierten Frauen aus allen Ländern des besetzten Europas auf den erworbenen Erfahrungen und Ergebnissen der eigenen Alltagsforschungen vor der „Wende“ aufbauten.

Fürstenberg/Ravensbrück und die Region gaben aber auch Anlass, eine Alltags-/ Kulturgeschichte über beide von der 15-jährigen Existenz des Frauen-KZ geprägten Orte zu erarbeiten. Zuvor hatte bereits ein sehr fähiger Heimathistoriker - Wolfgang Stegemann - ein druckfertiges Manuskript erarbeitet und im Jahr 2000 als ansehnlichen Band herausgegeben, den er „Beiträge zur Kulturgeschichte einer Region zwischen Brandenburg und Mecklenburg“ genannt hat, und der vom Mesolithikum bis zur Jahrhundertwende um 1900 reicht. Diesen Band habe ich lektoriert, aber wir waren uns beide danach schnell einig, gemeinsam einen zweiten Band folgen zu lassen, der - den Tendenzen der deutschen Geschichtswissenschaft folgend - bis 1989/90 und in das erste Jahrzehnt nach der „Wende“ führen sollte. Ein solcher Band ist 2004 unter unser beider Herausgeberschaft mit dem für so genannte Heimatliteratur ungebräuchlichen, fast provozierenden Titel „Fürstenberg /Havel -. Ravensbrück im Wechsel der Machtsysteme des 20. Jahrhunderts. Beiträge zur Alltags- und Sozialgeschichte einer Region zwischen Brandenburg und Mecklenburg“ erschienen. Namentlich der dritte Band unserer „Illustrierten Alltags- und Sozialgeschichte“ bot da manche Anregungen. Wir betrachten das Fürstenberg - Ravensbrück - Projekt noch heute als die bewusste Fortsetzung unserer jahrzehntelangen wissenschaftlichen Tätigkeit bis zur „Wende“. Methodisch war es allerdings insofern Neuland, als wir beiden Herausgeber - also Stegemann und ich - aus Gesundheitsgründen permanente Rollstuhlfahrer werden mussten, damit nur einen kleinen Mobilitätsradius wahrnehmen können und so veranlasst waren, vor allem in der Bevölkerung nach Mitarbeitern zu suchen, die Interesse an den jüngsten Perioden ihrer Heimatgeschichte hatten sowie Bereitschaft erkennen ließen, selbst über bestimmte Themen Beiträge zu schreiben. So entstand ein regelrechtes, gut funktionierendes Netzwerk mit ca. 20 Autorinnen und Autoren; eine großartige Gemeinschaftsarbeit, die wir 2004 der städtischen Öffentlichkeit vorstellten. Ich muss es mir versagen, auf inhaltliche Einzelheiten dieses Bandes mit 566 Druckseiten und zahlreichen Abbildungen einzugehen. Nennen möchte ich nur das letzte Kapitel mit allein 160 Seiten: „Fürstenberg seit der Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten 1989 - 2000“.

Unabhängig von uns hat Kurt Neis zwei Jahre nach unserem Band im Selbstverlag ein 700-seitiges Opus mit dem Titel „Fürstenberg - eine Perle ohne Glanz?“ herausgegeben, so dass - abermals eine Besonderheit - die Geschichte und Kulturgeschichte unserer Region bereits mit ca.1500 Druckseiten dokumentiert ist. Davon abgesehen planen wir - Stegemann und beide Jacobeits - einen weiteren, dann aber wirklich letzten Band, der sich ausdrücklich mit der „Wende- und Nachwendezeit“ bis ins erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts beschäftigen soll. Noch sind kaum etwas mehr als eine ausführliche Konzeption sowie ein Fragespiegel für Interviews, hauptsächlich mit zugezogenen Neubürgern, erarbeitet und einige potentielle Autorinnen und Autoren gewonnen worden, d.h. dass wir dabei sind, wieder ein Netzwerk aufzubauen. Aber historisch-theoretische und in gewisser Weise ideologische Überlegungen lassen uns selbst noch am Schreiben zögern. Schließlich sind auch wir mit der auf die Gegenwart bezogenen Periodisierung eher Zeitzeugen als Historiker, und das bedingt eine andere Betrachtungsweise als bis dahin. Denn wir sind ja gleichfalls der Problematik nach dem Für und Wider des Alten und des Neuen unterworfen und haben Stellung zu nehmen, wie es sich im Alltag darbietet. Vergangenes, nostalgisch verbrämt, wird eher zu fassen sein als das Neue. Denn was ist das Neue eigentlich, das sich ja nicht in der Aufzählung all dessen erschöpfen darf, was die Konsumgesellschaft kapitalistischen Zuschnitts ausmacht? Dieses Neue muss uns vielmehr und in erster Linie nach den Umständen interessieren, wie wir sie jeweils vor Ort finden. Dazu hat der Heimatforscher Klaus-Dieter Behnke, ehedem jahrzehntelanger Chefarzt am Krankenhaus Gransee, 2006 in seinen Darlegungen über „Geschichte und Geschichten“ des Ortes „Neuglobsow am Stechlin“ Stellung genommen und in der zugrunde liegenden Periodisierung ein Kapitel überschrieben mit „Von 1989 bis ... - Prinzip Hoffnung !“ sowie als Motto den Slogan von Helmut Kohl über die binnen kurzem zu erreichenden „blühenden Landschaften“ der DDR. Dieses Kapitel umfasst bezeichnenderweise ganze zwei Seiten (!) mit einem Abschnitt „Lingua quintii imperii“ (vgl. Victor Klemperers „Lingua tertii imperii“) und darin enthaltenen Medienschlagzeilen vom Herbst 2000 bzw. Begriffen wie „Abwicklung, weinerliche Ossis, arrogante Wessis, Mc Donaldisierung, Rechtsradikalismus, ... Fremdenhass, ... gaucken, ... deutsche Leitkultur, ... 10 Jahre danach: Einheitsfeiern“ u.a.m. Diese Liste ist kommentarlos, schließt aber mit der lapidaren Feststellung: „Zeitgenössische Eu- und Kakophonie. Deutschland zu Beginn des 3. Milleniums. Panta rhei ... Unser Kosmos Neuglobsow. Ein weites Feld“.

Ähnliches, wenn nicht gar Gleiches, dürfte für unsere nur wenige Kilometer von Neuglobsow entfernte Region gelten. Doch werden wir uns damit nicht zufrieden geben, sondern Aussagen in den großen ökonomischen, sozialen und kulturellen Zusammenhängen zu finden suchen, wie sie letztlich unter dem Stichwort „Globalisierung“ zu subsumieren sind. Aber noch ist hier für uns das französische Sprichwort „Qui vivra - verra“ angesagt. Einige sehr erfreuliche Rezensionen über unseren zweiten Band, u.a. von Isolde Dietrich, Thomas Kuczynski oder Karl-Heinz Roth, machen uns aber Mut zu diesem neuen Unternehmen, für das wir den Arbeitstitel „Fürstenberg/Havel - Ravensbrück auf dem Weg ins 21. Jahrhundert“ vorgesehen haben.

Nun ist Volkskunde/Kulturgeschichte nicht eine Wissenschaft per se. Sie hat auch Ambitionen im Bildungsbereich, namentlich in den Schulen. Dass dafür unser Bezug zur Alltagsproblematik als Basis grundsätzlicher Überlegungen eine Bedeutung haben kann und hat, erwies sich erst kürzlich mit Gründung der „1. International Summerschool“ am Gymnasium Carolinum in Neustrelitz. Dorthin hatten der Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern als Schirmherr und Sigrid Jacobeit als ehemalige Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück bekannte Wissenschaftler, Lehrer, Schüler und ehemalige „Ravensbrückerinnen“ zur aktuell gewordenen Diskussion um das Goethe- Wort „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut ...“ eingeladen; verbunden mit einer Tafelausstellung von Äußerungen bekannter Schriftsteller, Künstler und Gelehrter zur Frage „Was ist der Sinn des Lebens?“. Nach fast universitärem Vorbild wurden innerhalb von drei Tagen fünf Plenarvorlesungen und 22 Seminare abgehalten, die - bei einer Teilnehmerzahl von 250 Personen, davon etwa 200 Schülerinnen und Schüler der 13. Jahrgangsstufe - gut besucht waren, reichlich Diskussionsstoff boten und großen Anklang fanden. Eingeleitet wurde das vielseitige Programm von einem leitenden Mitarbeiter der „Klassik Stiftung Weimar“ Egon Freitag, der s. Zt. als Teilnehmer unseres volkskundlichen Fernstudiums mit einer brillanten Dissertation zu „Goethes Alltagsentdeckungen. Das Volk interessiert mich unendlich“ (1994) promoviert hatte. Er sprach zum Thema „Selbstverwirklichung und Kreativität aus klassischer Sicht“ am Beispiel des Goethe-Wortes: „Es ist nichts als Tätigkeit nach einem bestimmten Ziel, was das Leben erträglich macht.“ Auf weitere davon vielfach abgeleitete Themen und Diskussionsgrundlagen einzugehen, überschritte den Rahmen dieser Darstellung, zumal noch über ein anderes mehrjähriges Projekt zu resümieren ist, das von Ute Mohrmann initiiert wurde und bis heute von ihr mit Beteiligung von Sigrid Jacobeit und Leonore Scholze-Irrlitz geleitet wird.

Dieses Projekt entspricht dem in der DDR-Volkskunde häufig ventilierten Grundsatz, unsere Forschungen mit gegebenen Anliegen der Öffentlichkeit zu verbinden. Damit stand schon unser soeben geschildertes Projekt der „International Summerschool“ in Verbindung. Ute Mohrmann war aber noch konsequenter und nahm sich vor, die Lebensbedingungen in einer zu DDR-Zeiten gegründeten Industriestadt und dem gerade sich dort, in Eisenhüttenstadt, empfindlich auswirkenden Transformationsprozess seit der „Wende“ gemeinsam mit Bürgerinnen der Stadt, mit Studenten und noch aktiven Kolleginnen und Kollegen zu untersuchen sowie deren Ergebnisse in geeigneter Form der Öffentlichkeit zu präsentieren. Dieses Projekt umfasst die Zeit von 1945 bis 2007 und widmet sich in der Hauptsache den Frauen von Eisenhüttenstadt. Die Ausstellung „Eisenhüttenstädter FrauenAlltag. Spuren gelebter Utopie?“, von unserem langjährigen Designer, Norbert Günther, gestaltet, war nicht im Museum, sondern in einem großen Einkaufscenter aufgebaut worden, wo sie von vielen Eisenhüttenstädter Frauen und Männern nicht nur betrachtet, sondern wirklich wahrgenommen werden konnte. Die zum 50jährigen Stadtjubiläum im Jahr 2000 gezeigte Präsentation war das Vorgängerprojekt der seit 2005 weitergeführten studentischen Forschungen des HUB- Instituts für Europäische Ethnologie. Zu den Ergebnissen werden ein in Kürze publizierter Sammelband mit dem, wie ich meine, faszinierenden Titel: „FrauenAlltag im östlichsten deutschen Osten: Eisenhüttenstadt“ und der Film „Hüttenstadt. Menschen zwischen Aufbau und Abriss“, der als DVD dem Buch beigegeben werden soll, gehören.

Diese Gesamtdarstellung sei mit folgenden Bemerkungen „zur Sache“ abgeschlossen: Dass sich die HUB- Volkskundler und auch ihre Absolventen der Zusammenarbeit mit der Kulturwissenschaft bzw. der Kulturgeschichte überhaupt verbunden fühlen, sollte deutlich geworden sein. Nicht minder haben volkskundliche Fachvertreter an anderen Universitäten auf den allgemeinen gegenwärtigen Trend reagiert, indem sie „Kulturwissenschaft/Kulturgeschichte“ in ihre Institutsbezeichnung aufgenommen haben, so beispielsweise in Jena, Basel, Mainz und Marburg, wo Harm-Peer Zimmermann einen „Leitfaden für das Studium einer Kulturwissenschaft an deutschsprachigen Universitäten“ herausgegeben hat und darunter subsumiert Empirische Kulturwissenschaft, Europäische Ethnologie, Kulturanthropologie und Volkskunde. Ohne eine Begleitdisziplin wird Volkskunde allein lediglich noch in Bonn, Eichstätt-Ingolstadt, Erlangen-Nürnberg, Hamburg, Rostock und Zürich angeboten. In Tübingen wird Hermann Bausinger, der bekanntlich schon in den 1960er Jahren den Begriff „Volkskunde“ verworfen hatte und seitdem für Jahrzehnte das „Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft“ leitete, als „Aufklärer des Alltags“ und als „Kulturwissenschaftler“ apostrophiert.

Und schließlich noch dieses: Das Deutsche Literaturarchiv Marbach hatte kürzlich anlässlich der Gesamtausgabe des Werkes von Norbert Elias mit 19 Bänden zu einer Ehrung für diesen bedeutenden Geisteswissenschaftler eingeladen. Da war dann auch die Rede davon, welcher Disziplin Elias eigentlich angehört habe. Diese Frage hat er in seinen „Notizen zum Lebenslauf“ selbst beantwortet. Es war die Soziologie, für ihn eine „Königsdisziplin, und so wie er sie betrieb, war sie das auch, (nämlich) ein hervorragendes Mittel, beobachtend und erzählend Auskunft über den Menschen zu gewinnen. Der Mensch, so heißt es im Tagungsbericht der ZEIT (39/ 2007, S.59), das war sein Credo, ist nie allein und nie in einem statischen Zustand. Er lebt in Konfigurationen, also in einem unendlich bewegten System gesellschaftlicher Beziehungen und Machtverschiebungen“. Daraus folgerte er: „Es komme der Fülle und Tiefe der soziologischen Vorstellungskraft zugute, wenn deren Träger etwas anderes als nur professionelle Soziologie studiert hätten“, woraus er die These, ja Erkenntnis ableitete: „Ein Soziologe, der sich nur in der Soziologie auskenne, könne kein guter Soziologe sein“. Und danach handelte er selbst. Sein großes Gesamtwerk ist ein Spiegelbild angewandter Interdisziplinarität im historisch-gesellschaftlichen Kontext. Es ist nicht von ungefähr, dass sich Norbert Elias nach seiner Rückkehr aus britischem Exil an das „Zentrum für interdisziplinäre Forschung“ der Universität Bielefeld - das ZiF - begeben hat, wo er sechs Jahre als permanent fellow eine ideelle Bleibe fand, dort seine wichtigsten Bücher und Aufsätze schrieb, sein Geist dort noch heute lebendig ist und es bleiben wird.

Norbert Elias - Vorbild für Menschen aus unserer Branche und für Historiker allgemein?
(vgl. Eberhard Firnhaber & Martin Löning (Hrsg.), Norbert Elias. Bielefelder Begegnungen. Münster 2004)



 Vorträge 1
Hildegard Maria Nickel (Foto: Scheel)


Hildegard Maria Nickel

Kulturwissenschaft als Soziologie. Oder: Soziologie als Kulturwissenschaft



Im Metzler Lexikon „Literatur- und Kulturtheorie“ wird auf den Begriff gebracht, was m. E. das Dilemma der Kulturwissenschaft ist und war: „Kulturwissenschaft, der Terminus lässt sich bislang trotz vielfältiger Bemühungen deshalb nicht eindeutig definieren, weil darunter eine Vielfalt von unterschiedlichen Forschungsrichtungen und Tendenzen in den Geisteswissenschaften subsumiert wird, weil er als Sammelbegriff für einen offenen und interdisziplinären Diskussionszusammenhang fungiert und weil seine Reichweite umstritten ist.“

Unschärfe auf der einen Seite und ein sympathisch - anmaßender Komplexitätsanspruch auf der anderen Seite hatten – jedenfalls stellt sich mir das in der Rückschau so dar – Ende der 1960er Jahre einen Studiengang kreiert, der eine enorme Angebotspalette beinhaltete. Diese „transdisziplinäre“ Gelegenheitsstruktur war nicht nur in der DDR eine Besonderheit. Gerade im Augenblick ist ja wieder - Stichwort Exzellenzwettbewerb – der Ruf verstärkt zu vernehmen, dass enge Fächergrenzen in der Forschung überwunden werden müssen, während parallel allerdings das Gegenteil passiert und die Studiengänge „schlanker“ und „schmaler“ werden. So gesehen war der Studiengang der Zeit weit voraus! Und ich bin dankbar, dass ich Kulturwissenschaft in dieser offenen, diffusen Form studieren durfte.

Die Kulturwissenschaft hat mir, so meine erste Bilanz, eine „transdisziplinäre“ Denkperspektive eröffnet, die es mir erlaubte, Fächergrenzen zu überschreiten. Das hat es mir leicht gemacht, das Fach zu wechseln und mein Fach - die Soziologie - zu finden.

Der weite Kulturbegriff, von dem wir ausgingen, und die von Georg Simmel inspirierte Perspektive auf die „objektive und subjektive Kultur“, vor allem der Blick – so ideologisiert er zuweilen auch war – auf die „empirischen“ Menschen, auf das „tätige Individuum“ und seine Lebensbedingungen waren eine weitere Brücke in die Soziologie.

Die Soziologie untersucht – ihrem Selbstverständnis nach – die Arten und Weisen, wie das menschliche Leben sozial organisiert ist. Sie untersucht das im Sinne von „sozialen Tatsachen“ (Durkheim) und mittels empirischer Methoden. Das ist m. E. ein zentraler Unterschied zur Kulturwissenschaft, auch wenn diese noch so bemüht war, sich empirisch zu verorten. Die Kulturwissenschaft ist eine Geisteswissenschaft. Die Soziologie ist zwei Prinzipien verpflichtet, die sie zu einer empirischen Wissenschaft machen, der Beobachtung und der Interpretation auf der Grundlage von wissenschaftlich – methodischer Reproduzierbarkeit und logischer Analyse. Das macht sie auf gewisse Weise bodenständig, alltagsgebunden, wirklichkeitsnah. Das hätte ich der Kulturwissenschaft zuweilen auch stärker gewünscht.

In der Soziologie spielen die Schlüsselbegriffe Sozialstruktur, soziales Handeln, Kultur, Macht und gesellschaftliche Integration eine zentrale Rolle, Begriffe, die für die Kulturwissenschaft nicht fremd sind. Kultur wird hier verstanden als das mehr oder weniger integrierte, den Lebensstil von Menschen prägende Muster von Weisen des Denkens, Verstehens, Bewertens und Kommunizierens. Kultur wird so zu einem Forschungsgegenstand, der mit soziologischen Methoden untersucht werden kann. Das, finde ich, könnte eine interessante Herausforderung auch für die sich mit ihrer Geschichte befassende Kulturwissenschaft sein.

Aber… man kann die Dinge natürlich auch ganz anders sehen … Auch das habe ich als Kulturwissenschaftlerin gelernt.



 Vorträge 2
Kaspar Maase (Foto: Scheel)

Kaspar Maase

Die Neuentdeckung der Populär- und Massenkultur durch die Berliner Kulturwissenschaft


Als ich 1970 ans Berliner Institut kam, mein Diplom machte und eine Aspirantur begann, da war die Populärkultur im Kapitalismus durchaus ein geläufiges Thema – unter der Kategorie „imperialistische Massenkultur“. Auch mir ging die Formel relativ glatt von den Lippen, wie nicht wenigen Linken im Westen Deutschlands. Dass und wie sich mein Verständnis dieser Sachverhalte änderte (wobei neue Begrifflichkeit, wenn überhaupt, am Ende solcher Neukonzeptionierung zu stehen pflegt), hängt mit meiner Aufnahme von Grundpositionen der Mühlberg-Schule zusammen, wie ich sie damals und in den folgenden Jahren kennen lernte. Die größte Entdeckung war, die Marxsche Sicht auf die historische Progressivität des Kapitalismus ernst zu nehmen und – auch das durchaus in Übereinstimmung mit Klassikertexten – auf die Lebensweise der Lohnabhängigen, besonders der Industriearbeiterschaft, im Kapitalismus anzuwenden.

Das ließ sich vergleichsweise einfach machen im Blick auf Wohnen und Kommunikation, Familienstrukturen und Organisationsformen; eine Reihe von historischen Studien aus der Mühlberg-Schule haben das getan. Die Gedanken von historischer Notwendigkeit und Progressivität der empirisch vorfindlichen Lebensweise (zumindest ihrer Grundzüge) auch auf den Umgang der ProletarierInnen mit kommerziellen Künsten und Vergnügungen, auf die Kultur in Warenform anzuwenden, dem standen allerdings erhebliche intellektuelle Widerstände entgegen. Denn: Was waren das für Inhalte, die die kapitalistische Kulturindustrie (der Terminus war fast das einzige, was ein orthodoxer Marxist damals aus der Dialektik der Aufklärung akzeptierte) so erfolgreich und gewinnbringend unter den Massen verbreitete?! Die Botschaften der Massenkultur hemmten kritisches Denken, humanes Fühlen und solidarisches Handeln, ja: sie werteten solche Verhaltensweisen ab – das war bis weit in bürgerliche Kreise hinein der Konsens der 1970er.

Für den Widerspruch zwischen abstrakter Erkenntnis der historischen Progressivität der Lebensweise und empirischem Entsetzen über die reale Populärkultur der Lohnabhängigen fand sich eine Lösung, und zwar eine, die durchaus an zentrale Konzepte marxistischen Denkens anschloss: an das Praxis-Verständnis der Feuerbach-Thesen, an die Zentralstellung der Tätigkeit in der kulturhistorischen Schule der sowjetischen Psychologie, an die Hegelsche Idee der Aneignung. Aus diesem Blickwinkel wurde begründbar: Die analytischen Interpretationen der Massenkultur, wie sie Wissenschaft und intellektueller Diskurs produzierten, waren nicht identisch mit dem, was die Menschen in praktisch verändernder Aneignung aus diesen Texten für sich herausholten. Aneignung bedeutete Umarbeiten.

Es galt also, die Praktiken des nutzenden Umgangs und die (Um-)Deutungen der „einfachen Leute“ selbst zu rekonstruieren. Dann kam man zu Befunden zum Charakter der gelebten Populärkultur, die deutlich differenzierter waren und bei den Rezipienten deutlich mehr Eigenständigkeit im Denken, Fühlen, Handeln entdeckten als die bisherigen Studien zur Massenkultur „von außen und von oben“. Die zweite Generation der britischen Cultural Studies legte eindrucksvolle ethnographische Studien zur Arbeiterjugendkultur vor, die auf deren gelebte Widerständigkeit, die „Resistance through Rituals“ hinwiesen; der Alltagshistoriker Alf Lüdtke machte auf den „Eigensinn“ in der Arbeiterkultur aufmerksam. Und bei Pierre Bourdieu war zu lernen, dass um Geschmack und Urteile im Feld der Lebensstile ein Klassenkampf geführt wurde, in dem die Abwertung dessen, was die empirischen ArbeiterInnen schätzten, deren kultureller Delegitimation und Selbstausschließung diente. Danach konnte kein Intellektueller mehr gewiss sein, ob seine Kritik an der Populärkultur nicht einfach dem distinktiven Impuls seines sozialen Habitus entsprang: Selbsterhöhung unter dem Vorwand, den Massen der Unterprivilegierten zum rechten Durchblick zu verhelfen.

Den Ort, um mit Hilfe solcher Anregungen eine „neue“ Massenkulturforschung zu entwickeln, fand ich (wie andere) in den Volkskunde-Nachfolgefächern der alten Bundesrepublik: Europäische Ethnologie, Empirische Kulturwissenschaft, Kulturanthropologie. Dabei spielte eine wichtige Rolle, dass in diesem Fach seit den 1970ern eine lebendige Arbeiterkulturforschung betrieben wurde – die sich aber lange kaum mit kommerziellen Massenkünsten und Vergnügungen beschäftigte: aus den genannten Gründen. Das begann sich in den 1980ern zu ändern. Die Studien, die seither auf diesem Feld entstanden, möchte ich durch drei Es kennzeichnen, die für mich als Leitsterne der Populärkulturkulturforschung unverzichtbar geworden sind: ethnographisches Herangehen an Praktiken und Kontexte der Nutzung populärer Künste und Vergnügungen; Interesse am und Respekt vor dem Eigensinn der Lektüren und Gebrauchsweisen in den Unterschichten (so inzwischen die überwiegende Bezeichnung seitens der volkskundlichen Kulturwissenschaft); Anwenden der emischen Perspektive mit dem Versuch, die Sinnhorizonte der Unterschichtakteure „von innen“ zu rekonstruieren.

Die Entwicklung von den 1970ern bis in die 1990er wurde hier bisher als Ergebnis innerer argumentativer Logik und als Fortschreiten zu differenzierterer Erkenntnis dargestellt. Diese Sicht ist zwar wohl nicht völlig unbegründet, aber sie unterschlägt doch die tiefen, dramatischen, folgenreichen Brüche, die darin eingeschlossen waren. Ich verkürze in der ohnehin holzschnitthaften Darstellung noch einmal: In diesen Jahrzehnten verloren viele aus vielen – persönlichen wie welthistorischen – Gründen die Orientierung an der „historischen Mission der Arbeiterklasse“ (oder sie verzichteten bewusst darauf). Das ist in unserem Zusammenhang nicht als politisches Faktum, sondern als Veränderung im theoretischen Feld bedeutsam. Denn damit verband sich der Verlust einer scheinbar eindeutigen Position aus, von der man die reale Populärkultur im Kapitalismus beurteilen und kritisieren konnte.

Das fiel zunächst nicht so auf, weil mit dem neuen Ansatz, der nach Sinn und Nutzen des Gebrauchs populärkultureller Angebote aus der Sicht und in der Lebenswelt der unterbürgerlichen Akteure fragte, so viel an Perspektiven und Erkenntnissen zu gewinnen war und weil aus diesem Blickwinkel auch deutlich wurde, wie weitgehend die traditionelle marxistische Kritik der Massenkultur, der Amerikanisierung etc. der bürgerlichen Kulturkritik gefolgt war (beginnend mit dem Bürger Marx selbst). Nicht zuletzt unter dem Eindruck Bourdieus kam es zu einem Pendelschlag, der die Legitimation und Verteidigung unterschichtlicher Aneignungsweisen und Geschmäcker gegen die willkürliche Abwertung seitens gebildeter Habitusformen in den Vordergrund rückte.

Unverkennbar ist jedoch seit einiger Zeit, dass in der neuen Massenkulturforschung auch ein erhebliches Romantisierungspotenzial steckt, das noch in den fragwürdigsten Praktiken der Populärkultur Widerständigkeit, Subversion, Eigensinn zu entdecken gewillt ist. In dem Maße, wie Studien sich einlinig auf diesen Aspekt fixieren und beschränken, wächst die Wahrscheinlichkeit, sich mit solchen Argumenten wider Willen an der Seite solcher Kulturunternehmungen zu positionieren, deren Produkte radikal zu kritisieren sind (unabhängig davon, ob aus ihnen da und dort auch widerständige Energien entwickelt werden). Etwas schlichter formuliert: Der neuen Populärkulturforschung mangelt es seit längerem und aus systematischen Gründen an der Fähigkeit zur rational begründeten Kritik ihrer Gegenstände.

Die Zeit ist reif, so scheint es, für eine neue Debatte. Wie lässt sich (kulturhistorisch begründeter) Respekt vor den Menschen, die die Massenpublika bilden, vor ihrer Lebensführung und vor den Weisen, in denen sie populäre Künste und Vergnügungen für ihr Bemühen um „gelingendes Leben“ (H.-O. Hügel) nutzen, verbinden mit der systematischen argumentativen Entwicklung von kritischer Distanz gegenüber diesen Lebensweisen und der Rolle, die Angebote der Populärkultur darin spielen? Auch dazu gab es in den 1970ern schon Überlegungen, und nicht alle davon sind heute obsolet. Doch selbst die, die sich damals schon engagiert haben, sind heute nicht mehr die selben, und so könnten und sollten wir uns auf eine wirklich lebhafte Debatte mit originellen Beiträgen einstellen.

Was ich mit all dem sagen wollte: Rückblickend bin ich froh über die Verkettung von Zufällen, die mich meinen Weg als Kulturwissenschaftler in den Geleisen der Mühlberg-Schule aufnehmen ließen. Die davon geprägte Beschäftigung mit der Massen- und Populärkultur hat sich eigentlich fast immer „gut angefühlt“, und es scheint, als würde sie weiter spannend bleiben.

Danke!

Literaturhinweise

Autorenkollektiv der Arbeitsgruppe Kulturtheorie in der Sektion Ästhetik und Kunstwissenschaften [sic] der Humboldt-Universität zu Berlin. Leitung: Dietrich Mühlberg: Der Beitrag von Marx und Engels zur wissenschaftlichen Kulturauffassung der Arbeiterklasse. Ausgearbeitet 1970-1975. Manuskriptdruck, o.J. o.O. [Berlin].

Dietrich Mühlberg (Hg. und Leiter des Autorenkollektivs): Proletariat. Kultur und Lebensweise im 19. Jahrhundert. Leipzig, Wien, Köln, Graz 1986.

John Clarke u.a.: Jugendkultur als Widerstand. Milieus, Rituale, Provokationen. Frankfurt/M. 1979

Kaspar Maase: "Der Feind, den wir am meisten hassen ...". Über gutes Leben, Intellektuelle und den Unverstand der Massen. In: Manfred Bobke-von Camen u.a.: Der Trümmerhaufen als Aussichtsturm. Historische, aktuelle und perspektivische Vermessungen einer gründlich veränderten Situation. Marburg 1991, S. 183-200.

Kaspar Maase: 'Amerikanisierung der Jugend'. Eine Studie zur kulturellen Verwestlichung der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren. Habilschrift Bremen 1992.

Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen? Zum Unbehagen in der Unterhaltungskultur. In: Brigitte Frizzoni/Ingrid Tomkowiak (Hg.): Unterhaltung. Konzepte – Formen – Wirkungen. Zürich 2006, S. 49-67.



 Vorträge 2
Susanne Binas-Preisendörfer

Susanne Binas-Preisendörfer

Kulturwissenschaft und Kulturpolitik

Zunächst muss ich klarstellen, dass ich keine echte Kulturwissenschaftlerin bin, dafür aber eine leidenschaftliche.

Für die Studenten der Musikwissenschaft (1982 – 1987) gehörte der Besuch der Einführungsveranstaltungen in die Kulturtheorie und Ästhetik zum Pflichtprogramm. Der berühmte – von Prof. Mühlberg empor gezeigte – Kulturbeutel gehört zu meinen bleibenden Erinnerungen an dieses Studium an der HUB. Später belegte ich sehr freiwillig die Oberseminare zur Medienästhetik bei Prof. Günther Mayer. Er war es wohl auch, der ganz maßgebliche Impulse aus dem internationalen Avantgarde-Popbereich vermittelte und damit eine Art spiritus rector des expander des fortschritts wurde, eine Band in der ich zusammen mit zwei echten Kulturwissenschaftlern, Uwe Baumgarten und Eckehard Binas, den Ostberliner offground intellektualisierte.

Musik – Kultur und Politik – diese Gemengelage sorgte dafür, dass sich damals – Mitte der 80er Jahre – nahezu ein Drittel der Musikwissenschaftsstudenten von jenen Seminaren abwandte, in denen ein am klassisch romantischen Kunstbegriff des 19. Jahrhunderts gebildetes Musik- und also auch Kulturverständnis zelebriert wurde. Wir sahen in Schuberts ‚Tod und das Mädchen’ keine Vorlage zur erwarteten peniblen Analyse von Metrik und Funktionsharmonik, sondern eine zu politisierende Projektion romantischer Ästhetik.

Eigentlich aber interessierten uns Populär- und Massenkultur (Rockmusik, Unterhaltungskunst, Dokumentarliteratur), kulturelle Praktiken und Symbole des Widerstandes. Als mich in meiner Zwischenprüfung zur Systematischen Musikwissenschaft Prof. Kaden fragte, was ich denn einmal werden möchte, antwortete ich frech und etwas überheblich: Kulturministerin. Das war natürlich nicht im Geringsten ernst gemeint, andererseits aber durchaus getragen von dem Wunsch, sich an den Stellschrauben des Staates einzubringen, Wissenschaft und Kunst als Option der Veränderung zu begreifen. Es muss doch möglich sein, Wissen in Politik umzusetzen.

Wenn Sie mich heute fragen, ob das möglich ist … diese Frage ist schwer zu beantworten. Ich vermute, dass ein Großteil der hier anwesenden, auch der Wissenschaftler und Künstler (ich erinnere an einige Lieder von H.E. Wenzel am gestrigen Abend), Wissenschaftlerinnen und Künstlerinnen es ohnehin despektierlich finden, im unübersichtlichen Feld der Politikberatung zu agieren.

Seit der 15. Wahlperiode (2003) arbeite ich als Sachverständiges Mitglied des Enquete-Kommission ‚Kultur in Deutschland’ des Deutschen Bundestages. Ende dieses Jahres wird diese Kommission dem Parlament in Berlin seinen Abschlussbericht übergeben. Für diesen Bericht habe ich einige Textbausteine erarbeitet. So ‚Künstlerbild und Kreativität zu Beginn des 21. Jahrhunderts’, den über die ‚wirtschaftliche Lage von Künstlern’ und auch das Kapitel ‚Kultur- und Kreativwirtschaft’ habe ich „federführend“ – wie man so schön sagt – „verantwortet“. Aufmerksam verfolgt habe ich des Weiteren die Unterkapitel ‚Kultur und Migration’ und ‚Demographischer Wandel’.

Eine Enquete-Kommission gilt als das unmittelbarste Instrument der Politikberatung. Die Funktion einer Sachverständigen besteht darin, insbesondere inhaltlichen und systematischen Input zu liefern, aktuelle kulturwissenschaftliche und kulturpolitische Entwicklungen zu transferieren, Experten für Anhörungen vorzuschlagen, Leistungsbeschreibungen für Gutachten zu formulieren, eingehende Exposés für entsprechende Gutachten zu sichten, Vorschläge zur Vergabe zu unterbreiten etc. Während der Anhörungen sind sowohl Politiker als auch Sachverständige aufgerufen, Ihre Fragen an die geladenen Experten zu stellen. Die fertig gestellten Gutachten sind daraufhin zu überprüfen, ob sie der Leistungsbeschreibung entsprechen, ihre Annahme ist zu empfehlen oder Nachbesserungswünsche zusammenzustellen. Am Ende der Kommissionsarbeit müssen die einzelnen Textbausteine formuliert werden, wobei davon ausgegangen wird, dass v. a. die Sachverständigen zur Feder greifen. So auch in meinem Falle. Die Textentwürfe werden anschließend in den Arbeitsgruppen diskutiert. Und spätestes zu diesem Zeitpunkt, kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen um Begriffe, Argumentationen und Schlussfolgerungen. (Ziel sind Handlungsempfehlungen und Gesetzesvorschläge)

Mein zentrales wissenschaftliches Interesse galt in den vergangenen Jahren den Institutionen, Organisationen bzw. Akteuren des Kulturprozesses, deren Binnenstrukturen, Wertschöpfungsmomenten, Rechtssubjekten einerseits und den Aushandlungsdiskursen zwischen all diesen Ebenen andererseits. Daher also auch mein Interesse am Berufsstatus von Künstlern, deren Selbstbild, den Vermittlungsleistungen von Verlagen, Agenturen, Galerien, Fragen der Kultur- und Kreativwirtschaft und der wirtschaftlichen Situation aller am diesem Prozess Beteiligten.

Wissenschaftlich begründete argumentative Annäherungen sind in kulturpolitischen Texten der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren geläufig. Es gibt wohl kaum ein Feld der kulturpolitischen Diskussion – denken Sie dabei v. a. an die sog. Neue Kulturpolitik, besser vielleicht bekannt unter dem Slogan ‚Kultur für alle’ – das seine Legitimation auf eine so unendliche Fülle kulturwissenschaftlicher Theoriebildung gründet: Kultur als Gesellschaftspolitik und damit auch als ein Handlungs- und Politikfeld, das sich wissenschaftlicher Argumentationen und Beratung umfänglich bedient bzw. wo Kulturpolitiker selbst als Wissenschaftler gearbeitet haben (so die Professoren Hilmar Hoffmann, Hermann Glaser, Julian Nida-Rümelin, Dietrich Mühlberg und auch Dr. Thomas Flierl)

Allerdings tut sich v. a. dann ein Graben auf, wenn Kategorien ins Spiel kommen, mit der die Künste scheinbar nichts zu tun haben: Markt und Ökonomie. Als ich in gewohnter wissenschaftlicher Manier von einigen historischen Wahrheiten schreiben wollte, z. B. von der Verbürgerlichung des Kulturbetriebes, der Produktion von Kunst für einen anonymen Markt ohne konkrete Auftraggeber und ohne konkretes Publikum schlug mir großes Unverständnis entgegen. Was hätte denn das mit der wirtschaftlichen Lage von Künstlern, mit dem Künstlerbild etc. zu tun? Zugegeben, in der eben zitierten holzschnittartigen Passage steckt viel Ungenaues und deshalb vielleicht auch Missverständliches.

Grundsätzlich ist es höchst schwierig, komplexe Prozesse in politischen Zusammenhängen angemessen zu reflektieren. Dies wird dann eher – wie Günther Grass neulich im Gespräch mit Pierre Bourdieu in der auf Arte gesendeten Aufnahme thematisierte – als „zersetzende Analyse“ abgewiesen. Diese Erfahrung wird wohl jede Wissenschaftlerin machen, die sich in entsprechende Zusammenhänge begibt.

Dennoch gibt es auch Genugtuung. Fürstenerziehung ist vielleicht das falsche Wort, aber das Anschieben von politischen Entscheidungen, Programmen oder Fördertopfen kann bisweilen gelingen. Anfang dieses Jahrzehntes haben wir in Berlin beispielsweise mit der Club-Commission – deren kulturpolitische Beraterin ich damals war – den Blick der (Wirtschafts-) Verwaltung für infrastrukturelle Bedingungen auf Bezirks- und Landesebene geöffnet. In der Politik spricht man vom Bohren dicker Bretter, denn es vergeht stets sehr viel Zeit, ehe bestimmte Ideen umgesetzt werden können und zweifellos braucht es dabei auch seitens der Wissenschaft ein Selbstverständnis, dass sich am Kulturprozess und nicht so sehr an seinen Werken orientiert. Diese Perspektive hatte sich für mich bereits während meines Studiums an der HUB aufgetan.

Susanne Binas-Preisendörfer ist Professorin für „Musik und Medien“ am Institut für Musik der Universität Oldenburg.



 Vorträge 2
Bernd Lindner, (Foto Joachim Scheel)


Bernd Lindner

Gesellschaft(en) hinterfragen – Kultursoziologie im Kontext zweier Systeme


Die Geschichte der Kultursoziologie ist weltweit von Diskontinuitäten geprägt. Phasen stärkerer Bedeutung in Wissenschaft und Gesellschaft folgten immer wieder solche mit geringerer Nachfrage bzw. Relevanz. Das gilt auch für die Kultursoziologie in Ostdeutschland.

In der DDR war sie zwar ein zartes, aber dennoch blühendes Pflänzchen. Beginnend Anfang der 1970er Jahren entfaltete sich in einer Reihe von kulturellen und künstlerischen Teilbereichen ein erstaunlich breites thematisches Spektrum an kultursoziologischen Forschungsansätzen und -projekten: von Freizeitstudien über Befragungen zu den Lebensweisen der Menschen in unterschiedlichen Siedlungsstrukturen und Wohnformen bis hin zu theater-, film- und literatursoziologischen Studien. Manches davon blieb eine ‚Eintagsfliege’, aber es entstanden auch kontinuierliche Forschungsgruppen wie z. B. die um Fred Staufenbiel in Weimar im Bereich der Architektursoziologie oder die um Dietrich Sommer und Dietrich Löffler zur Leseforschung in Halle.

Ich hatte das große Glück, zeitlich ziemlich passgenau, in diesen Konstituierungsprozess hineinwachsen zu können. Als Student des Direktstudienganges 1974-78 war ich an der Durchführung und Auswertung der UNESCO-Kulturstudie Nr. 1, deren DDR-Part von den Kulturwissenschaftlern gemeinsam mit den Soziologen der Humboldt-Universität realisiert wurde, intensiv beteiligt. Diese international vergleichende Studie hat mein, davor in Ansätzen bereits vorhandenes Interesse an kultursoziologischen Fragestellungen weiter gefördert. Durch Hintergrundrecherchen für den neu entstehenden Studentenclub der Humboldt-Universität in der Linienstraße, an dem wir Studenten der Kulturwissenschaft aktiv beteiligt waren, bekam ich dann einen ersten Kontakt zum Leipziger Zentralinstitut für Jugendforschung (ZIJ). Der erweiterte sich, als Lothar Bisky (damals Leiter der Abteilung Kultur- und Medienforschung am ZIJ) seine nebenberufliche Tätigkeit als Dozent für Kultursoziologe bei den Kulturwissenschaftlern in Berlin aufnahm. Ich absolvierte ein Praktikum am ZIJ, verfasste meine Diplomarbeit mit Daten aus filmsoziologischen Studien des Instituts - wofür ich zuvor im Eilverfahren erst einmal „VD verpflichtet“ werden musste („VD“ bedeutete: zur Einsicht in „Vertrauliche Dienstsachen“ zugelassen; in der DDR unterlagen nahezu alle soziologischen Daten einer der vier Geheimhaltungsstufen NfD, VD, VS und VVS). Dann bekam bekam ich sogar die Möglichkeit, nach dem Studium dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter einsteigen zu können. Sicher ein weiterer Glücksumstand in meinem Wissenschaftlerleben: Nicht nur hinsichtlich der interessante Forschungsaufgaben, die dort auf mich warteten, sondern vor allem auch wegen des offenen, kritischen Klimas, das an diesem Institut herrschte. Das ZIJ stand von seiner Gründung 1965 bis zu seinem Ende 1990 unter der Leitung von Prof. Walter Friedrich, einem in jeder Hinsicht außerordentlichen Wissenschaftler und Menschen. Sein Grundverständnis von sozialwissenschaftlicher Jugendforschung in der DDR war, dass nur eine Forschung diesen Namen verdiene, die sich selbst keine Tabus hinsichtlich ihrer Fragen an die Gesellschaft auferlegte.

Ein für die DDR sehr kühnes Unterfangen, das er aber nahezu 25 Jahre (mit Hilfe seiner ca. 100 Mitarbeiter, darunter ca. 60 Wissenschaftler) im wahrsten Sinne des Wortes durch gestanden hat; trotz vieler, vor allem politischer Widernisse. Walter Friedrichs Ansatz spiegelte sich auch in der Struktur des Instituts wieder. Neben Fachabteilungen, die sich wichtigen sozialen Teilgruppen unter der Jugend der DDR zuwandten (also den Lehrlingen und jungen Arbeitern, den Studenten und der Landjugend; einzig eine eigenständige Abteilung zur Schuljugend blieb uns versagt - da war Margot Honecker vor), wurde das Forschungsprofil des ZIJ durch thematische Querschnittsabteilungen zu den Bereichen Junge Ehe und Familie, Sexualverhalten Jugendlicher, Jugend und Politik, Jugend und Bildung (später auch Kreativitätsforschung), Jugend und Recht sowie zum Freizeit- und Medien- und Kulturverhalten Jugendlicher geprägt. Dahinter stand der Anspruch, die soziale Wirklichkeit Jugendlicher in der DDR möglichst umfassend mit soziologischen Mitteln zu erforschen.

Die oben beschriebene Grundhaltung am ZIJ hatte noch einen unschätzbaren Vorteil für mich: Ich musste die kritischen Geisteshaltung, die uns während des Studiums in Berlin vermittelt worden war, nicht unterdrücken, sondern konnte sie sogar produktiv einbringen. Insgesamt war ich 13 ½ Jahre am ZIJ tätig. Ich beschäftigte mich dort mit dem Leseverhalten Jugendlicher (worüber ich auch 1985 bei Karin Hirdina promovierte), führte zahlreiche Studien zur Rezeption bildender Kunst in den Kunstausstellungen der DDR durch (darunter auch repräsentative Besuchererhebungen auf der IX. und X. Kunstausstellung in Dresden) und setzte mich mit den, in den 1980er Jahren immer differenzierter werdenden jugendkulturellen Szenen im Land auseinander. Ich konnte dabei sowohl auf das wissenschaftliche Know-how des ZIJ in punkto Befragungen zurückgreifen als auch neue methodische Ansätze (insbesondere im qualitativen Bereich und dessen Verknüpfung mit repräsentative Erhebungsdaten) mit entwickeln helfen. Vor allem aber konnte ich Felder besetzten, die ich für gesellschaftlich relevant hielt und bekam dafür von dem Direktor des Hauses wie meinen Kollegen in der Abteilung Kultur- und Medienforschung (die nach Lothar Biskys Wechsel nach Berlin, von Dieter Wiedemann geleitet wurde, der seit 1996 Rektor der Filmhochschule in Potsdam ist) absolute Rückendeckung. Inhaltlich hervorheben möchte ich besonders die Frage nach der Kunst als Ersatzöffentlichkeit in einer begrenzt offenen Gesellschaft, die ich anhand des DDR-Publikums in Kunstausstellungen untersucht habe (offiziell lautete die Überschrift der Studie: Soziologische Erhebungen zu sozialen Gebrauch bildender Kunst in der DDR am Beispiel von Besuchern der …“). Sowohl im Verband Bildender Künstler als auch im Kulturministerium konnte ich dafür wichtige Partner gewinnen; auch wenn deren Intentionen, diese Forschung zu fördern, sehr breit streuten. Das Spektrum reichte hier vom wirklichen Interesse am Gegenstand bis zur Sicherung von Herrschaftswissen.

Denn wir lebten und arbeiten am ZIJ natürlich nur scheinbar auf einer „Insel der Seeligen“. Dies wurde uns immer wieder dann besonders bewusst, wenn wir die Ergebnisse unserer Forschungen in den gesellschaftlichen Verwertungs- und Erkenntnisprozeß zurückfließen lassen wollten. Sich immer wieder auftuende politische Engräume einerseits, wie die ständige Kontrolle durch unsere vorgesetzten Dienststellen andererseits (von denen es mit dem Amt für Jugendfragen, der Abteilung Jugend im ZK der SED und dem Zentralrat der FDJ mehr als genug gab), verhinderten permanent, dass allzu viele unserer Ergebnisse eine breite Öffentlichkeit erreichten. Sie zu publizieren war - je nach Themengebiet - nur eingeschränkt oder gar nicht möglich. Auch wenn - als ich 1978 zum ZIJ dazu stieß - die schlimmsten Auswüchse dieses Abschottungsdenkens überwunden waren, vor diversen Rückfällen waren wir nie sicher. Damit wir unsere Ergebnisse aber nicht nur für den Panzerschrank produzierten, wurden wir zu ‚Wanderpredigern’ in eigener Sache. Ich hielt pro Jahr ca. 25 bis 30 Vorträge bei Weiterbildungsveranstaltungen in Kulturakademien, beim Kulturbund, in den Künstlerverbänden etc.

Hervorzuheben an den Arbeitsmöglichkeiten am ZIJ ist vor allem auch die große Kontinuität, mit der man sich dort Forschungsfelder erschließen und in aufeinander aufbauenden empirischen Studien schrittweise ausfüllen konnte. Forschungsplanungen über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinaus waren die Regel, nicht die Ausnahme.

Dies sollte sich nach 1990 alles schlagartig ändern. Das international hoch geschätzte ZIJ wurde - trotz intensiver Bemühungen unsererseits und massiver Unterstützung renommierter westlicher Fachkollegen – Ende dieses Jahres geschlossen. Obwohl (oder gerade weil ?) wir binnen weniger Wochen das Funktionieren unseres Forschungsinstitutes unter quasi bundesdeutschen Verhältnissen nachgewiesen, eine funktionierende (vorher so in der DDR nicht existierende) Meinungsforschung aufgebaut und bereits die erste vergleichende deutsch-deutsche Schülerstudie realisiert hatten (lange bevor die erste vergleichende Shell-Jugendstudie überhaupt an den Start ging).
Nachdem auch die geplante Gründung eines gesamtdeutschen Jugendforschungsinstitutes mit zwei gleichberechtigten Standorten in Leipzig und München erfolgreich hintertrieben wurde, fiel das ZIJ - von über 60 auf 12 Wissenschaftler reduziert - als Außenstelle an das Deutsche Jugendinstitut München. Ich war einer der Übernommenen, der einzige aus einer Abteilung von ehemals acht Mitarbeitern. Zwar waren auch die Münchner Kollegen brennend an den Ergebnissen der, z. T. über 15 Jahre und länger laufenden Intervallstudien des ZIJ interessiert; zur Finanzierung weiterer Intervalle fand sich jedoch kein Geldgeber. Forschungsvorhaben werden in der Bundesrepublik, so mussten wir lernen, in der Regel stets nur über eine Laufzeit von zwei Jahren gefördert. Dann ist die Weiterförderung des Projekts erneut zu beantragen. Ob sie erfolgt, kann vorher nicht gesagt werden.

Mit dem DJI (damals unter Leitung des Familienforschers Prof. Hans Bertram, heute Professor für Soziologie an der Humboldt-Universität) lernte ich eine hoch qualifizierte aber zugleich auch hoch spezialisierte Forschungseinrichtung kennen. Eine Gesamtsicht auf die bundesdeutsche Jugend wurde gar nicht erst angestrebt. Forschung erfolgte nur nach Förderung. Die Förderung war stets Projekt orientiert. Der Zugriff auf die Jugendwirklichkeit musste somit fragmentiert bleiben. Ganze, gesellschaftlich relevante Bereiche (wie z. B. der Übergang von der Schule ins Berufsleben, die studentische Jugend, junge Ehen und Familien) fanden in der Forschung keinen Niederschlag. Und auch die komplexen Umbrüche im Osten Deutschlands wurden nur punktuell untersucht. Als ich Anfang 1992 mit Hilfe eines Habilstipendiums der DFG die Möglichkeit erhielt, meine Forschungen zur Rezeption bildender Kunst im Osten Deutschlands fortzuführen, war ich keineswegs traurig das Terrain der Jugendforschung nunmehr verlassen zu müssen.

Ich fand mit meinen Habilprojekt an der Universität Karlsruhe bei den Professoren Hans-Joachim Klein und Bernhard Schäfers eine gute Heimstatt. 1995 habilitierte ich mich dort als einer der ersten ostdeutschen Sozialwissenschaftler an einer westdeutschen Universität. 2001 ernannte mich die Universität Karlsruhe zum apl. Professor für Kultur- und Jugendsoziologie. Hajo Klein ist der renommierteste Besucherforscher der alten Bundesrepublik. Doch während er über 20 Jahre vor allem Studien zum Besucherverhalten in kulturhistorischen, zeitgeschichtlichen, technischen und naturwissenschaftlichen Museen durchgeführt hatte, konnte ich ihn bei unserem Kennenlernen 1990 mit meinen methodisch breit angelegten Studien zu Kunstausstellungsbesuchern durchaus überraschen. Dass hier in den alten Bundesländern ein großes Forschungsdefizit bestand, wurde spätestens deutlich, als auf der documenta IX in Kassel - der weltgrößten Kunstausstellung - 1992 erstmals eine Besucherbefragung stattfinden sollte. Ich wurde als Fachberater dafür engagiert, konnte auf diese Weise meine Erfahrungen in diese Befragung einfliesen lassen und zugleich meine Forschungen zur Kunstrezeption Ostdeutscher bis in die unmittelbare Gegenwart fortführen. Allerdings war der Anteil der Besucher aus den neuen Bundesländern an der dIX mit 5 Prozent sehr gering, obwohl Kassel unmittelbar in der Nähe der ehemaligen Zonengrenzen liegt; erste Zeichen einer bis heute partiell weiter anhaltenden Fremdheit zwischen Ost und West.

Nach den Besucherbefragungen in Kassel realisierte ich noch weitere repräsentative Evaluationen im Sprengel Museum Hannover und für das Haus der Geschichte in Bonn (vergleichende Studie zum Geschichtsverständnis von Museumsbesuchern). Bei dieser Stiftung bin ich seit 1995 hauptberuflich angestellt, mache nun selbst Ausstellungen für ein großes Publikum. Im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig (meinem Stammhaus) habe ich bereits fünf thematische Wechselausstellungen realisiert, die danach auch im Haus der Geschichte in Bonn und in anderen Städten der Bundesrepublik gezeigt wurden. Zuletzt kuratierte ich die Ausstellung „Rock! Jugend und Musik in Deutschland“, die in Leipzig, Bonn und Berlin ca. 350.000 Besucher sahen.

Aber auch innerhalb der Stiftung bin ich weiterhin in Sachen Besucherevaluation tätig. Im Zeitgeschichtlichen Forum habe ich seit seiner Eröffnung im Jahr 1999 mehrere repräsentative Besucherstudien in der Dauerausstellung unseres Hauses und in Wechselausstellungen durchgeführt. Seit 1994 führe ich darüber hinaus an der HTWK Leipzig im Rahmen des Museologie-Studiums Lehrveranstaltungen zur „Einführung in die Besucherforschung“ durch, an deren Ende die Studenten Befragungen in konkreten Ausstellungen in Leipziger Museen durchführen. Auf diese Weise erhalten nicht nur kleinere Museen, die sich kommerzielle Erhebungen nicht leisten können, kostenlos Angaben zu ihren Besucherstrukturen, sondern ich kann auch meine Erfahrungen in diesem Bereich an künftige Museumsmitarbeiter weiter geben.

Auch der Jugendsoziologie habe ich noch nicht abgeschworen. Seit Mitte der 1990er Jahre entwickele ich ein Modell der Jugendgenerationen der DDR, indem meine Erfahrungen aus der Jugendforschung ebenso einfließen wie die als Zeit- und Kulturhistoriker, als der ich heute hauptsächlich tätig bin. Derweil die kultursoziologische Forschung (nicht nur im Osten Deutschlands) wieder einmal von weniger gesellschaftlicher Relevanz erscheint …



 Vorträge 1
Günter Kracht (Foto: Scheel)


Günter Kracht

Kulturwissenschaft als Wissenschaft der modernen Gesellschaft
Thesen



Außerhalb meiner eigentlichen Ausführungen möchte ich mit einer interessanten Information beginnen: Über 44 Jahre kulturwissenschaftliche Ausbildung an der Humboldt-Universität kritisch nachzudenken, retrospektiv nach ihrer möglichen Zukunft zu fragen, muss m. E. nicht resignativ ausfallen. Das Studienfach, das Sie dort vor einiger Zeit studierten, ist nach wie vor an ihr präsent. Informationen der Universitätszeitung zufolge haben sich im Wintersemester 2007/08 im Ranking der Bewerbungen – so der gegenwärtige Wortgebrauch – auf einen Studienplatz der Kulturwissenschaft mehr als 20 Bewerbungen (genau 24) eingefunden! Mehr Bewerbungen finden wir nur noch bei den Erziehungswissenschaften.

Sie sehen an diesem doch beeindruckenden Zahlenverhältnis das große Interesse am Studienfach Kulturwissenschaft und welche große Aufmerksamkeit sie unter künftigen Studenten findet. Zumindest in dieser Hinsicht hat sich gegenüber früher eigentlich nichts geändert. Auch in den vergangenen Zeiten hofften viele auf den begehrten Studienplatz mit dem magischen Namen Kulturwissenschaft, sogar möglicherweise mit ähnlichen individuellen Motiven.


Einstimmende Vorbemerkung:

In meinen Bemerkungen werde ich einige Perspektiven der Kulturwissenschaft umreißen. Meine Aufmerksamkeit richtet sich dabei auf eine Kulturwissenschaft, die sich an der Kultur der gegenwärtigen Gesellschaft ‚abarbeitet’. Die Ausführungen sind natürlich nur kursorisch, gelegentlich überspitzt und möglicherweise auch sehr einseitig. Mir geht es vor allem um Grundlinien eines kulturwissenschaftlichen Denkansatzes, d. h. um eine Kulturwissenschaft, die sich ihrer Herkunft vergewissert, um daraus ihre gegenwärtige und künftige Funktion abzuleiten. Ich greife dabei Ergebnisse des cultural turn der Sozialwissenschaften auf, setze das anhaltende Interesse an der Kulturwissenschaft in der Wissenschaftslandschaft und den Hochschulen voraus, also die große Aufmerksamkeit, die der Kulturwissenschaft – aus welchen Gründen auch immer – seit einiger Zeit zufällt. In dieser Aufmerksamkeit sehe ich eine große Chance für die Verbreitung kulturwissenschaftlicher Erkenntnisse, soweit man das für eine der Wissenschaft eher desinteressiert gegenüber stehenden (politischen) Öffentlichkeit überhaupt sagen kann. Wenn es heute hier um eine Standortbestimmung des Kulturwissenschaftlichen geht, dann schließt das aus meiner Sicht eine Problemschärfung wie Problemerweiterung notwendigerweise ein, nein setzt diese voraus.


I.

Es ist ein Gemeinplatz geworden: Kulturwissenschaft scheint eine anerkannte Disziplin im Fächerkanon der Geistes- resp. Sozialwissenschaften geworden zu sein. Ein Ende ihrer Konjunktur - zumindest an den Hochschulen und in der öffentlichen Wahrnehmung - ist im Moment noch nicht abzusehen. Die unmittelbar den Problemen der Kulturwissenschaft zugewandten Publikationen füllen mittlerweile ganze Bücherregale. Monographien, Aufsatzsammlungen und umfangreiche Lexika dokumentieren das immense Interesse an dieser denkwürdigen Wissenschaft. Dieser eher quantitative Gesichtspunkt steht in einem eigentümlichen Verhältnis zu den heterogenen Standpunkten und Auffassungen, die wir in den Texten finden. Die Kulturwissenschaft, das ist schnell erkennbar, ist weit von einer konsensuellen Sicht auf ihren Gegenstand, ihre Methoden und ihren Platz im Fächerkanon entfernt. Selbst angesehene Vertreter des Fachs kokettieren gelegentlich mit der Meinung, dass sie auch nicht genau wissen würden, was eigentlich Kulturwissenschaft ist, die sie ja gerade betreiben.

Diese Umstände sind Ihnen alle mehr oder weniger auf` das Beste bekannt. Wir verkörpern ja heute auch eher das Heterogene, fast ist man geneigt zu sagen, das Hybride, welches sich auf dem imaginären Boden Kulturwissenschaft zu treffen versucht. Ob wir auch nur Ähnliches meinen, wenn wir von Kulturwissenschaft sprechen, ist eine offene Frage. Eine stimmige Antwort kann letztlich nur jeder einzelne für sich finden.


II.

Vor diesem allgemeinen Hintergrund möchte ich pointiert meine Auffassung zur Kulturwissenschaft darlegen und soweit das notwendig erscheint, etwas ausführlicher begründen. Ich werde versuchen, Ihnen in äußerst gedrängter Form eine Auffassung von Kulturwissenschaft vorzustellen, von der ich meine, dass sie in die Zeit gehört, ja geradezu erforderlich ist, dass man die offensichtliche theoretische Not, in der sich die Kulturwissenschaft anscheinend befindet, in eine Notwendigkeit ihrer nachhaltigen wissenschaftlichen Existenz überführen muss. Das zeigt sich unmittelbar auch an wissenschaftlichen und alltagspraktischen Aufgaben, die einer kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung bedürfen. Natürlich gibt es auch andere Möglichkeiten, Kulturwissenschaft zu begründen, ich konzentriere mich in meinen Ausführungen auf jene Seite der Kulturwissenschaft, die man ‚Selbstbeschreibung der gegenwärtigen Gesellschaft als Kultur’ nennen kann. Um diesen Gedanken weiter zu verfolgen, ist es notwendig, einen kurzen Blick auf die Geschichte der Kulturwissenschaft zu werfen.


III.

Die Geburtsstunde der Kulturwissenschaft schlägt mit der Entstehung der modernen Gesellschaft und der Herausbildung einer modernen Kultur. Vormoderne Gemeinschaften kannten und brauchten keine Kulturwissenschaft. Sie hatten Kultur, aber kein soziales Interesse oder keine wissenschaftlichen Möglichkeiten, sich dieser reflektierend zu nähern. Die Kulturwissenschaft ist - wie die Soziologie - ein legitimes Kind der Moderne. Sehr vereinfacht können wir sagen, dass sie die soziologische Frage: Wie ist Gesellschaft (nicht Gemeinschaft!) überhaupt möglich? mit dem Hinweis auf Kultur beantwortet. Die entstehende Kulturwissenschaft schlägt im 18. Jahrhundert damit zugleich eine Erkenntnisbrücke zu ihrer legitimen Schwester, der Anthropologie, die das Besondere der menschlichen Existenz in seiner Kultur sieht. Menschliches Leben und soziale Lebensformen bedingen sich einander und werden nun erkennbar aufgrund ihrer gemeinsamen Grundlage: Kultur.

Auch wenn einzelne Elemente moderner Gesellschaft und Kultur schon eine längere Geschichte aufweisen, ist man sich gegenwärtig einig, dass sich dieser Übergang allmählich im 17. und 18. Jahrhundert in einigen Ländern Europas vollzog und ein grundlegend verändertes Denken (Kultur) sich herauskristallisierte - gemeint ist die Denkbewegung von der Aufklärung, der Erklärung der Menschenrechte über die Klassik bis zur Romantik. Von nun an wurde die moderne Gesellschaft einer fortlaufenden ‚Kulturalisierung’ unterworfen. Kulturwissenschaftliches Denken verbirgt sich in jener Zeit noch in der Sozial- und Moralphilosophie, in der Historiographie, in den Staatswissenschaften, in der Anthropologie; wenige Jahrzehnte später finden wir sie überwiegend im Gewand der Soziologie. Sehen wir einmal von der Kulturgeschichte und der Kulturphilosophie ab, dann bildet sich mit den Sozialwissenschaften um 1900 zugleich eine Kulturwissenschaft deutlich heraus. Man kann sogar den Standpunkt vertreten, dass wir es bei den Begründern der Soziologie in Deutschland, F. Tönnies, M. Weber und G. Simmel, eigentlich mit Kulturwissenschaftlern zu tun haben. Das ließe sich leicht an den Hauptaussagen ihrer Werke nachweisen. Tönnies Dualismus von Gesellschaft und Gemeinschaft, Webers Verständnis von sozialem Handeln oder Simmels Formen der Vergesellschaftung, stets begegnen uns kulturwissenschaftliche Denkfiguren. Mir kann es hier noch nicht einmal im Ansatz um eine Art Wissenschaftsgeschichte gehen. Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass sich eine moderne Kulturwissenschaft in Reflexion der modernen Gesellschaft gebildet und entwickelt hat, sie hat das Kulturelle als Deutungsrahmen des Sozialen beobachtbar gemacht. Hier ist vor allem wichtig zu betonen, dass sich die Kulturwissenschaft in Auseinandersetzung mit der modernen Gesellschaft entwickelte und damit ihre inhaltliche Kontur erhielt.

M. a. W.: Die Begründer der Kulturwissenschaft verstanden darunter eine Möglichkeit zur Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft, die nämlich nur aufgrund einer kulturellen Auslegung einer Deutung und Erklärung zugänglich ist. A. Comte wollte die Soziologie noch als eine „Naturwissenschaft des Sozialen“ begründen. Simmel und Weber erkannten, dass die Natur des Sozialen kulturell ist. Menschliche Gesellschaften sind kulturell, d. h. sinnhaft fundiert; ohne Kultur (d. h. nur aufgrund des Vorhandenseins eines Mediums – zumindest des menschlichen Körpers und der Lautsprache – das sie einsetzen, um sich und der Welt eine Bedeutung zu geben) gibt es keine uns bekannte menschliche Sozietät. Möglich wurde ihnen diese Erkenntnis durch eine intensive Beschäftigung mit der Gesellschaft (Moderne), in der sie lebten.

Während Simmel und Weber diese Auffassung soziologisch gewannen, können wir sie heute auch naturwissenschaftlich begründen. In einem grundsätzlichen Sinn ist Kultur die Natur des Menschen. Kultur ist die Natur des Menschen lehren uns Evolutionsbiologen, Paläontologen, Anthropologen, Hirnforscher u. a. Es ist dieser enge Zusammenhang von moderner Gesellschaft und Kulturwissenschaft, der im Zentrum meiner weiteren Aufmerksamkeit steht.


IV.

Auffällig an der frühen Kulturwissenschaft ist ihr Status als ‚Krisenwissenschaft’. Weder Simmel noch M. Weber waren an einer Wissenschaft interessiert, die auf Versöhnung und Einheit ausgerichtet war. Für sie war klar, dass eine moderne Wissenschaft die Konflikte der (modernen) Kultur erfassen und beschreiben müsse. Eine solche Sicht auf Kultur stand (in der Wilhelminischen Gesellschaft) und steht wohl auch heute quer zu der kommunizierten Auffassung von Kultur, in der eine Gesellschaft mehr das Einheitliche, das Gemeinsame sehen möchte und weniger das Differente, Gegensätzliche und Widersprüchliches beachtet und anerkennt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts boten sich für das angestrebte Einheitliche und idealisierte Gemeinsame die Idee der Nation und Klassenkulturen an. Da aber Simmel und Weber keine harmonisierenden Kulturkonzepte zur Verfügung stellten, wurden sie weniger als Kulturwissenschaftler anerkannt und rückten in die Ahnenreihe der Soziologie ein. Was als Kulturwissenschaft reüssierte war Kulturkritik oder Kulturphilosophie, später mit unterschiedlicher kulturwissenschaftlicher Gewichtung philosophische Anthropologie (Scheler, Plessner, Gehlen). Nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte die Kulturkritik der Kritischen Theorie. Sie trug wenig zur Wiederbelebung einer modernen Kulturwissenschaft bei. Kultur rückte etwas aus dem Gesichtsfeld der Wissenschaften.
Die in den 1960er Jahren zögerlich einsetzende Wiederbelebung kulturwissenschaftlicher Ansätze in der Bundesrepublik wie in der DDR hatten viele Ursachen und Gründe. Das auch nur anzudeuten zu versuchen, wäre in diesem Zusammenhang mehr als fahrlässig. Eins scheint aber festzustehen: Die in der Bundesrepublik in den 1960er Jahren stattfindenden Wandlungen trugen ein Kulturetikett ebenso wie die in der DDR beabsichtige ‚sozialistische Kulturrevolution’. Beide Vorgänge haben Anteil an der Bildung kulturwissenschaftlicher Fragestellungen, schließlich an der Entstehung einer Kulturwissenschaft (und der Ausrichtung von Kunst- und Literaturwissenschaften als Kulturwissenschaften).

Das alles ist Geschichte und erfordert eine sachliche und kritische Auseinandersetzung unter Einbeziehung der marxistischen Traditionen zwischen 1917 und 1989.

Was ist und vor allem was kann Kulturwissenschaft heute? Welches Selbstverständnis muss sie haben, um jenseits der skizzierten historischen Achse in der Gegenwart zu wirken und von einem spezifischen Teil der gesellschaftlichen Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden? Dem versuche ich in den weiteren Thesen nachzugehen.


V.

Ich bin der Auffassung, dass eine moderne Kulturwissenschaft in einem transdisziplinären Verbund zeigen kann, dass die Grundlagen menschlicher Entwicklung kultureller Natur sind, dass die biologische Evolution des menschlichen Lebewesens eine kulturelle Fortsetzung in sozialen Lebensformen gefunden hat. Viele wichtige Diskussionspunkte der Gegenwart wurzeln in diese Zusammenhang von Natur und Kultur, von Leib, Körper und Bewusstsein usw. In diesem Sinn ist eine moderne Kulturwissenschaft eine Basiswissenschaft, die grundsätzlich erklären kann, wie ihr Gegenstand Kultur evolutionär in die Welt kam. Sie synthetisiert zu diesem Zwecke Erkenntnisse vieler anderer Wissenschaften, verallgemeinert deren Aussagen zu einem Konzept Kultur. Sie wird damit nicht zu der Leitwissenschaft oder gar Überwissenschaft. Sie ist aber fähig, die Schlüsse bspw. der Evolutionsbiologie für Annahmen der kulturellen Evolution der Menschen zu nutzen. M. a. W.: Während uns der Biologe erklärt, wie sich bestimmte menschliche Potentiale ausgebildet haben, zeigt die Kulturwissenschaft in Form einer Historischen Anthropologie wie Menschen mit diesem Potential umgegangen sind bzw. umgehen. Eine moderne Kulturwissenschaft operiert also nicht mit dem Gegensatz von Natur und Kultur, sondern konzipiert Kultur der Menschen konsequent als Fortsetzung der Natur des Menschen und erinnert zudem auch stets daran, dass die Natur die Voraussetzung ist, wir als Gattung wie als einzelne Individuen von ihr unabdingbar abhängig sind, unsere so genannte instrumentelle Vernunft möglicherweise am ‚Desinteresse’ der Natur an uns scheitern kann.

Nur ein instrumentelles Kulturkonzept, das Kultur als Beherrscherin der Natur denkt, kann darin einen unauflöslichen Konflikt sehen und kommuniziert borniert den Dualismus von Natur und Kultur weiter. Kultur als Konsequenz einer Evolution von Lebensformen kennt diesen Konflikt nicht, eher die Erfahrung, dass an Menschen und ihren spezifischen und historischen Lebensformen mehr ‚Natur’ als ‚Kultur’ ist.


VI.

Kulturwissenschaft am Anfang des 21. Jahrhunderts bedeutet Wissenschaft in einem schwierigen Gelände zu sein. Es gehört heute fast zum guten sozialwissenschaftlichen Ton, in Ansehung der Gesellschaft in der wir leben zu sagen, dass wir überhaupt nicht wissen, in welcher Gesellschaft wir leben. Die Gesellschaft – so der Soziologe U. Beck und anderen – ist uns weitestgehend (begrifflich) unbekannt geworden. Nachdem postmoderne Theorien ihre Anziehungskraft verloren haben und wir zunehmend merken, dass wir vielleicht erst dabei sind, ‚modern’ zu werden, stehen wir zu Recht vor der Frage, wie diese Gesellschaft, in der wir heute leben, adäquat zu beschreiben wäre. Was die gesellschaftliche Situation gegenwärtig kennzeichnet ist ihre ‚Unbeschriebenheit’, ihr Unbekanntsein; aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive können wir sagen, der Gesellschaft fehlt eine stimmige Kulturalisierung. Diese Erkenntnis sollte m. E. am Beginn einer jeden ernsthaften Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Gesellschaft stehen, was ja vor allem bedeutet, dass uns die passenden Begriffe fehlen. Das bedeutet: Wir müssen überkommene Begriffe kritisch prüfen, fragen, ob wir ihre Inhalte, ihre Deutungsrahmen verändern, erweitern müssen oder sie vielleicht löschen und durch andere ersetzen sollten. Das ist nicht die alleinige Aufgabe der Kulturwissenschaft. Sie nimmt daran anteilig bestimmte Fragen und Probleme wahr, fühlt sich für die ‚kulturelle Seite’ zuständig. Was sie einbringen kann, scheint mir aber gewichtig genug, um von der Kulturwissenschaft als einer Wissenschaft der modernen Gesellschaft zu sprechen: Es ist neben dem gewonnenen modernen Kulturverständnis (der moderne Kulturbegriff) ihr Potential zur Behandlung der Frage nach der Gesellschaft, in der wir künftig leben wollen bzw. in der wir künftig leben werden. Aus meiner Sicht scheint es der Kulturwissenschaft möglich zu sein, die Gesellschaft kulturell ‚aufzuspannen’ zwischen ihren gegebenen Wirklichkeiten und den darin beobachtbaren Möglichkeitshorizonten.

Ich verwies schon eingangs auf den Zusammenhang von moderner Gesellschaft und modernem Kulturbegriff. Das Eine ist ohne das Andere nicht zu haben. Mit diesem Kulturbegriff (besser vielleicht: Kulturverständnis/Kulturkonzept) verfügt die moderne Gesellschaft über ein Instrumentarium adäquater Selbstbeschreibung, denn es gestattet die Beobachtung fundamentaler Widersprüche/Gegensätze, Anomalien, aber auch die Beobachtung von Einheit und Zusammenhang. Die moderne Kultur integriert Ordnung und Eindeutigkeit wie Ambivalenz und Pluralität. Sie selbst legt sich nicht fest, sie verweigert klare Vorgaben und abschließende Definitionen. Wenn Kulturwissenschaft dann die Frage „Wie sind soziale Ordnungen möglich?“ durch Kultur beantwortet, beschreibt sie u. a. die Möglichkeit der Individuen, die Unbestimmtheit ihres individuellen Verhaltens in die Bestimmtheit(en) sozialen Handelns zu transformieren. Dieser Vorgang ist konstitutiv für jede soziale Ordnungen! Er lief in Wildbeutergemeinschaften ebenso ab wie im unmittelbaren Moment meines kurzen Vortrags. Er läuft zudem fast unbewusst ab. Kultur als die Voraussetzung für jenen Prozess ist dabei unsichtbar. Sie wird benutzt, angewandt. Nur in der Reflexion wird sie sichtbar und kommunikativ behandelbar. Und hier finden wir das Problem der Kultur der modernen Gesellschaft: Sie wird einerseits als Kultur kommuniziert. Während – sehr grob gesprochen – andere soziale Ordnungen Kultur hatten, weiß die Moderne, dass für sie eine bestimmte Kultur konstitutiv ist. Zum anderen ist diese Kultur dadurch charakterisiert, dass sie den sozialen Akteuren keine eindeutigen Orientierungen für ihr Verhalten in die Hand geben kann. Die Folgen sind Unsicherheiten im sozialen Handeln. Der Verlust an klarer Orientierung ist aber kein spätes Ergebnis moderner Kulturentwicklung, sondern tritt schon mit ihrer Entstehung auf. Die kommunikative Verfasstheit der frühen Moderne verhinderte aber, dass solche Einsichten verstärkt und erfolgreich kommuniziert werden konnten. Denken wir nur an die begrenzte Wirkmächtigkeit der Kulturüberlegungen der Frühromantik. Das hat sich im Zuge der Modernisierung der Moderne rasch und tief greifend geändert. Die Moderne ist eine Gesellschaft mit einem offenen Sinnhorizont. Permanent werden richtige und gangbare Wege zu diesem Horizont simuliert. Zu diesem Bewusstsein ist sie im Laufe ihrer Entwicklung gekommen. Im frühen 19. Jahrhundert war dieses Wissen latent und durch Fortschrittsphantasien abgesichert, spätestens seit 1900 und dann eingedenk der Erfahrungen der 20. Jahrhunderts können wir uns dieser kulturellen Gemengelage nicht mehr verschließen. Die Verhältnisse werden unübersichtlich und (kultur-) wissenschaftliche Rettung ist nicht in Sicht. In Sicht ist eher eine Verdrängung dieser Erkenntnis.

Nie war Kulturwissenschaft (andere Sozial- und Kulturwissenschaften ebenso) wichtiger für die Gesellschaft, die sich das Label ‚Wissensgesellschaft’ gegeben hat, nie wurden deren Einsichten und Erkenntnisse mehr übersehen und abgewertet. Wenn es nicht in den jeweiligen Denkrahmen passt, wird der Wissenschaft schon einmal schnell Unverständlichkeit; Realitätsferne oder ‚Soziologendeutsch’ vorgeworfen!


VII.

Die Kulturwissenschaft befindet sich in einer ambivalenten, ja paradoxen Situation. Soll sie nicht im Stadium einer Kulturkritik à la Frankfurter Schule verharren, muss sie sich in einem schwierigen theoretischen Terrain festlegen, d. h. theoretische Entscheidungen treffen: Beobachtet sie ihre eigenen Grundlagen als differente oder avisiert sie ihre eigenen Hoffnungen an und formuliert sie eine Kultur der Einheit. M. a. W.: Basiert Kulturwissenschaft auf einer Kulturtheorie der Differenz, des Dissens oder der Ordnung, der klaren Klassifikationen, bearbeitet sie das Kontingente, Ambivalente oder versucht sie es auszuschließen, zu eliminieren. Die Entscheidung dürfte eigentlich nicht schwer fallen. M. E. hat eine moderne Kulturwissenschaft nur als Wissenschaft des Differenten eine Zukunft, u. a. auch, weil jede Kulturwissenschaft der Ordnung, des Nichtdifferenten fast schon bei ihrer Formulierung überholt scheint. Denken wir nur an einige Begriffskarrieren der letzten Jahrzehnte: ‚Risikogesellschaft’, ‚Kommunikationsgesellschaft’, ‚Erlebnisgesellschaft’, ‚Wissensgesellschaft’, ‚Multioptionsgesellschaft’ und nicht zuletzt die vorschnelle Ausrufung einer gesellschaftlichen Postmoderne.


VIII.

Eine moderne Kulturwissenschaft muss das Komplexe denken können. Notwendige theoretische Reduktionen des Komplexen (Vereinfachungen, Simplifizierungen) geraten dabei nicht aus dem Blick. Reduktion beseitigt nicht die Komplexität, sondern macht sie nur theoretisch handhabbar. Das muss betont werden, um keiner Kulturwissenschaft der Simplifizierung das Wort zu reden. Eine solche Kulturwissenschaft einer komplexen Welt stößt auf Akzeptanzprobleme in einer Welt der Vereinfachung. Wo einfache Antworten erwartet werden, können sie von der Kulturwissenschaft nicht gegeben werden, so man nicht den Anspruch verlieren möchte, moderne Kultur zu thematisieren. Solche einfachen Antworten finden wir in der rhetorische Formel von der Sicherheit der Renten und der ‚Vollbeschäftigung’ – in einer Zeit des demographischen Wandels und dramatischer Veränderungen des Arbeitsmarktes! -, der Leugnung von Unterschichten oder dem Argument, das Fernsehen dick, dumm und aggressiv mache.
Eine Kulturwissenschaft des Komplexen und Differenten scheint mir in der Lage zu sein, solche einfachen Denkfiguren aufzulösen und damit zumindest auf der Höhe der Beschreibung von bestehenden kulturellen Problemen und Konflikten zu argumentieren.


IX.

Eine Kulturwissenschaft des Differenten und Komplexen nimmt das Problem einer möglichen Zukunft ins Visier, um in der Gegenwart Antworten auf mögliche gesellschaftliche Zustände zu finden. Sie thematisiert m. a. W. die Frage nach unserer sozialen Zukunft. Gemeint ist damit nicht eine Auferstehung des Utopischen in Gestalt der Kulturwissenschaft. Es geht um die Beschreibung von Lebensformen, die wir erstreben wollen, weil wir sie heute für erhaltenswert finden. Angesichts der Problemfülle fällt es nicht schwer, auf einige wichtige kulturelle Sachverhalte hinzuweisen, die für die nähere Zukunft erstrebenswert sind, weil sie gegenwärtig bedroht scheinen: die Bewahrung eines verfassten Rechtsstaat, die Legitimität von politischen Entscheidungen durch demokratische Verfahren, einen säkularen Staat und eine säkulare Gesellschaft, die bürgerlichen Freiheiten der Individuen, die Autonomie der Wissenschaft und die Freiheit der Kunst, die Bewahrung und Verteidigung des Privaten. Es steht Vieles auf dem Spiel in der Gegenwart. Antimoderne Kulturen führen in unserer Gesellschaft längst kein Schattendasein mehr. Parallelgesellschaften konstituieren sich über Gegenkulturen. Nicht geringe Teile der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland (das gilt auch für andere europäische Gesellschaften) leben jenseits einer modernen Kultur, lehnen diese nicht nur ab, sondern bekämpfen diese tagtäglich. Verachtet werden individuelle Freiheiten, die selbst gewählten Ausdrucksmöglichkeiten der Kunst, ein verfasstes Recht, säkulare Verhältnisse in der Öffentlichkeit, Meinungsfreiheit, individuelle Selbstbestimmung usw. usf. Damit rücken nicht automatisch, quasi reflexhaft Migrantenkulturen in den Blick, es sind vielmehr Kulturen aus der so genannten Mitte der deutschen Gesellschaft, die sich zunehmend um einfache Antworten auf komplexe Fragen (u. a. der Globalisierung) gebildet haben.

Dabei verkenne ich nicht, dass sich auch widerständige Kulturen ausbilden können, doch was ich hier vor Augen habe, sind kulturelle Strategien, die bewusst um Bedeutungskerne einer längst vergangenen Vergangenheit sich aufbauen, alte Vorurteile kultivieren und diese geschickt als Orientierungspotential nutzen.


X.

Die Kulturwissenschaft, die ich hier im Ansatz zu entfalten versuche, entspricht der modernen Gesellschaft, die sie zu beschreiben versucht. Diese pendelt zwischen Schließung und Öffnung, Differenzierung und Entdifferenzierung, Inklusion und Exklusion, Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung, Normierung und laissez fair, Disziplinierung und Spontaneität hin und her und vergewissert sich ihrer selbst durch die Annahme, dass nichts beständiger ist als der kontinuierliche Wechsel. Eine solche Kultur, wie sie dann in der Kulturwissenschaft beschrieben wird, überfordert möglicherweise die Individuen, reißt sie mit ihren Aussagen aus ihren realen oder vermeintlichen Sicherheiten. Kulturwissenschaft kann ihnen aber keinen Trost spenden (wie einige Studierende dieser Wissenschaft hoffen) oder gar neue Sicherheiten versprechen, eher Menschen auf neue kulturelle Zumutungen einstellen. Temporäre Sicherheiten müssen sich Menschen selbst suchen und dafür auch gute Gründe finden: Eine Variante wäre eine Renaissance der Bürgerlichkeit, die Erkenntnis, dass die Individuen als Bürger eine Bürgergesellschaft bilden können. Die Schaffung einer Bürgergesellschaft und die aktive Teilhabe an ihr könnte ein Garant für die Abwehr religiöser oder politischer Fundamentalisierungen sein. Denn die Gefahr besteht, dass solche Bestrebungen die moderne Kultur zerstören, das Spiel von Differenzierung und Entdifferenzierung politisch oder religiös zugunsten des Homogenen und nicht des Heterogenen entschieden wird, eine kulturelle Ordnung des Eindeutigen etabliert wird Eine funktionierende Zivilgesellschaft würde eine Kultur kommunizieren, die sich der Notwendigkeit einer konsequenten Exklusion jeglichen Totalitarismus verpflichtet weiß. Ein zentraler Punkt wäre die konsequente Verteidigung des Privaten!


XI.

Folgen wir Niklas Luhmann, dann ist Kultur das Gedächtnis der Gesellschaft, bezogen auf das gerade Gesagte bedeutet das, dass der Gesellschaft all jene Erinnerungen entnommen würden, die sie zu einem Gedächtnis einer modernen Gesellschaften werden ließen. Was dahinter verbirgt, kann sich jeder schnell vorstellen, der an die Geschichts- und Identitätspolitik nichtmoderner Gesellschaften resp. Kulturen denkt. Die jüngere Kulturgeschichte liefert dafür Beispiele und Anhaltspunkte in reichhaltiger Form.


XII.

Das Gesagte enthält viele Konsequenzen für die Ausbildung von Kulturwissenschaftlern. Die Kulturwissenschaft muss – hier greife ich eine Überlegung von Hans-Ulrich Gumbrecht auf - Menschen mit Komplexität konfrontieren. Das bedeutet, Studierende nicht mit Lösungen und Weltsichten zu überhäufen, wichtiger ist Begegnung mit dem Komplexen, die Bindung der Aufmerksamkeit an das Überraschende und Neue. In der Kulturwissenschaft gilt es Wege zum Noch-Nicht-Gedachten auszuschreiten, die Schaffung von Möglichkeitsräumen aufgrund der realen Praxen, in denen die Kulturwissenschaft selbst involviert ist und nicht das blumige Ersinnen luftiger Welten im Irgendwo. Wer, so frage ich, könnte der Frage nach dem Wie unseres Lebens in der näheren Zukunft besser nachgehen als Kulturwissenschaft, indem sie ihre Vergleichshorizonte möglicher Welten in unsere Gegenwart einzieht.


XIII.

An einem anderen Beispiel seien Möglichkeiten heutiger Kulturwissenschaft zumindest angedeutet: am Verhältnis von Mensch und Natur. Längst ist die Behauptung, dass die Natur uns Menschen nicht benötigt, zu einer Gewissheit geworden. Metaphorisch gesprochen kann die Natur auf die menschliche Natur gut und gerne verzichten, zumal die reflektierende Natur – das heißt der Mensch – sich in diese Lage manövriert hat. Einen großen und gewichtigen Anteil daran hat das Kulturverständnis des 18. und 19. Jahrhunderts mit seinem Fortschritts- und Beherrschungskriterium gegenüber der Natur, auch der Disziplinierung der eigenen menschlichen Natur. Heute muss ein modernes Verständnis von Kultur ihre ureigenste semantische Bedeutung reaktivieren: sie muss auf Pflege, Bewahrung, Hege, ja auch Verehrung, Bewunderung sich umstellen. Kulturwissenschaft muss in der Gesellschaft überzeugend kommunizieren, was Odo Marquard auf die prägnante Formel brachte, dass man die Welt nicht verändern, sondern schonen solle. Wenn Sie nun fragen, was Kulturwissenschaft zu solchen Leistungen prädestiniert, dann sage ich Ihnen: ihr Gegenstand Kultur, d. h. das Gedächtnis sozialer Systeme, die Sinnform der Rekursivität sozialer Kommunikation (Luhmann). Wir können es auch etwas anders formulieren: Kulturen sind Immunsysteme des Gesellschaftlichen, m. a. W. eingebaute Lernmechanismen des Sozialen. Kulturen entscheiden über die Lernfähigkeit einer Gesellschaft und damit über die ‚Lebensfähigkeit’ sozialer Systeme. Kulturen modernen Gesellschaften zeigen, welche Lernpotentiale sie besitzen und zur weiteren gesellschaftlichen Entwicklung bereitstellen. Auf diese rekurriert die Kulturwissenschaft, legt sie bloß, aktiviert oder reaktiviert sie. Wenn ‚Kultur die Dekomposition aller Phänomene mit offenen Rekompositionshorizonten’ (Luhmann) ermöglicht, dann liegt darin einerseits das Potential der modernen Kultur und andererseits die Chance von Kulturwissenschaft.

Eine andere Welt ist möglich sagen Globalisierungskritiker, eine moderne Kulturwissenschaft kann sagen: Eine andere Welt ist notwendig! Ohne in Prophetie zu verfallen entfaltet sie wissenschaftliche Szenarien, die zeigen, dass unsere kulturelle Moderne nicht die Modere für 6,5 Milliarden Menschen auf der Welt sein kann, sondern dass das die Katastrophe wäre, und zwar das schnellste aller Erdenenden. In dieser realen Aufgabe sehe ich u. a. eine große wissenschaftliche Herausforderung für die Kulturwissenschaft, die das Überleben der Menschheit im Visier hat und keine Kämpfe von Gestern kulturwissenschaftlich begleitet und nachträglich kommentiert. Wir können das auch so formulieren: Kulturwissenschaft muss in der Gegenwart operieren!

Der Kulturwissenschaft fiele die Aufgabe zu, eine Kultur des Rückbaus der Moderne zu konzipieren und anderen Kulturen eine Kultur partnerschaftlicher Partizipation anzubieten. Kulturwissenschaft formuliert eine Kultur der anderen Perspektiven und überschreitet damit schon gezogene Perspektiven. Wir müssten nun nicht gleich das konsumistische Manifest (N. Bolz) aufkündigen, aber es als das erkennen, was es wohl ist: eine neue gängige Zivilreligion vor ihrer baldigen Entzauberung.


XIV.

Der heutige Kulturwissenschaftler ist ein Navigator im Offenen und für das Offene. Für ihn ist die Kultur der modernen Gesellschaft – besser vielleicht der modernen Gesellschaften – kein fester Regelkanon, oder ein starres Klassifikationssystem, eher ein sich ständig wandelndes Meer von Optionen. Seine Aufgabe besteht im Wahrnehmen der Alternativen, der Reduktion von symbolischen Übertreibungen oder in der Steigerung von Verharmlosungen. Er sucht das Maß und findet vorläufige Antworten, die er mit Skepsis ausspricht. Selbst der Ideologie nahe, entlarvt er das Ideologische. Er wirbt für den Dissens, das Differente der eigenen modernen Kultur, weil er in ihnen das Fundament jedweder Kultur sieht. Während andere Kulturen die Differenz in sich selbst überblenden und unwirksam machen wollen, weiß der moderne Kulturwissenschaftler um die Produktivität des Differenten, Ambivalenten, Heterogenen. So arbeitet er bspw. am Bild des Fremden, um ihm fremd zu bleiben, aber nicht Feind zu werden. Er nimmt nicht die Komplexität aus der Welt, sondern geht mit ihr um. Im Verbund der Sozial- und Geisteswissenschaften betont er inhaltliche Öffnungen gegenüber thematischen Schließungen.

Kulturwissenschaft – dieser Gedanke kann gar nicht genug ausgesprochen werden - steht nicht für eine neue Überwissenschaft. Kulturwissenschaft generiert sich auch nicht als Leitwissenschaft für das 21. Jahrhundert. Sie stellt – fortlaufend kritisch prüfend - der (modernen) Gesellschaft ihr historisches gewachsenes Selbstbewusstsein zur Verfügung und zeigt dieses Selbstbewusstsein - die Summe der in der Gesellschaft kommunizierten Selbstbeschreibungen - als gewordenes und als wandelbares. Aus der Wahrnehmung des Kontingenten aller Selbstbeschreibungen gewinnt Kulturwissenschaft Momente ihrer Notwendigkeit. Hier liegen hinreichende Gründe für ihr Gebrauchtwerden in unserer Gesellschaft.



 Gespräche
Jörg Petruschat



Jörg Petruschat

Wie ich von der Kulturwissenschaft zur Gestaltung kommen konnte


Ich bin hier zu einer persönlichen Stellungnahme eingeladen worden und ich schildere gern wohin es mich - ausgestattet mit einem auch kulturwissenschaftlichen Studium - heute getrieben hat.

Zunächst:
Der Charme der Kulturwissenschaft (der Berliner Schule) besteht in ihrem überschaubaren begrifflichen Repertoire. Mit den Begriffen der "Lebensbedingungen", die den "Individuen", die "sich entfalten wollen" eine Grundlage und einen Kontext geben und dem Begriff von "Lebensweise(n)", die diese subjektive Seite mit den objektiven Bedingungen "vermitteln", kann man in zwei Stunden jedem, der noch nie etwas von Kulturtheorie gehört hat, halbwegs umreißen, wonach eine Wissenschaft von der Kultur fragen kann, was ihre hauptsächlichen Untersuchungsgegenstände sind und worin ihre gesellschaftliche und politische Bedeutung (der Wissenschaft wie der Kultur als praktischer Vorgang) besteht. Alles andere ist Erfahrung - also: (Kultur-)Geschichte. Wenn es da nicht noch zwei Bereiche gäbe, die schon während des Studiums in den achtziger Jahren begriffliche Anstrengung erfordert haben und - heute gewiss unter anderer Reklame - noch erfordern: die damals von Irene Dölling erarbeitete "Persönlichkeitstheorie" und - zweitens - die sinnliche oder eben ästhetische Seite, die "Ästhetische Kultur", deren Konzept aus meiner Sicht vor allem Günter Mayer entwickelt hat.

Das Konzept der "Ästhetischen Kultur" stellte für mich das Angebot zu einem Brückenschlag dar zwischen den gegeneinander selbständigen Lehrgebieten Kulturtheorie/Kulturgeschichte auf der einen und Ästhetik als philosophischer und philosophiegeschichtlicher Disziplin auf der anderen Seite - ein Brückenschlag, der von Seiten der Ästhetik erfolgte und ausging. Das Konzept der "Ästhetischen Kultur" nahm die Berliner Theorie der Kultur ernst und auf, prüfte und verwendete es in ästhetischen Analysen künstlerischer und gestalterischer Praxis, konkretisierte es in Fragen zu Medien- und Massenkultur, der Ästhetik von Alltagsphänomen, von Formgestaltung, Architektur, Städtebau und den Problemgeschichten, die diese "nichtkünstlerischen" Bereiche strukturierten. Von der Ästhetik als philosophischer Disziplin, deren Wirkung in meinem Studium und Prägung bis heute gar nicht überschätzt werden kann, ist hier nicht Ort noch Zeit zu reden.

Die Persönlichkeitstheorie liegt mir bis heute am Herzen, weil sie mir zu fragen erlaubt, unter welchen Bedingungen Individuen handlungsmächtig werden. Das geschah in den achtziger Jahren in durchaus kritischer Absetzung zur "Kritischen Psychologie" (insbesondere Ute Osterkamps "Grundlagen der psychologischen Motivationsforschung"). Irene Döllings Konzept der Persönlichkeitstheorie ermöglichte es mir dann später, an einem Subjektbegriff und Subjektkonzept festzuhalten und weiter zu arbeiten, als unter der Posaune poststrukturalistischer Diskurse die Rede vom Subjekt in weiten Teilen der Philosophie und Kulturwissenschaften als antiquiert und überholt galt. Mir war und ist bis heute wichtig, das Besondere des Individuums vor einem Hintergrund denken zu können, der entwicklungsgeschichtlich und anthropologisch, aber auch psychologisch und soziologisch gebaut ist, und der es mir erlaubt, dies Besondere nicht als Abweichung, sondern als einen gesellschaftlichen Reichtum vorzustellen.

Als vor etwa zwei Jahren eine Dissertation aus Wien auf meinen Schreibtisch kam mit der zentralen Frage: Sind Designobjekte Medien? - konnte ich nur müde lächeln. Denn wer - wie ich in Berlin - mit einem materialistischen Kulturkonzept groß geworden ist, kann in der gegenständlichen Vermittlung von Bedeutungen und Kommunikationen, von Konformität und Non-Konformität nicht gerade eine neuartige Fragestellung erblicken.

Aber dieses Geschenk "Persönlichkeitstheorie", das ich von der Kulturwissenschaft erhielt, wurde mir erst wirklich etwas wert im Kontext des Konzepts der "Ästhetischen Kultur". Denn erst in diesem Zusammenhang wird die Frage nach der Handlungsmacht (den Handlungsmöglichkeiten) des Individuums befreit von Perspektiven, die das individuelle Handeln letztlich wieder auf Verstand und Einsicht eng führen. Im Konzept einer "ästhetischen" Kultur wurde ja nicht auf eine "Kultur" neben anderen orientiert, sondern zunächst nur darauf verwiesen, dass Kultur eben nicht nur auf Rationalität (und damit auf Regeln einer linear operierenden Logik und Argumentation, auf "Einsicht in Notwendigkeiten") hinausläuft. Wie soll auch, so fragte ich mich seinerzeit, in mechanisch aufgesetzten Denkschemata Entwicklung stattfinden? Als ehernes Gesetz oder als Anweisung "von oben"? Ich finde Theorien, die dem Individuum keine Chance geben, auf gesellschaftliche Entwicklungen einzuwirken, oder die diese Idee für absurd ausgeben, feuilletonistisch schlau: sie therapieren und trösten, selbst und gerade dann, wenn sie mit analytischem Engagement auftreten. Aber als Theorien, als Denkräume für ein Handeln, sind sie deprimierend und ungeeignet. Ich habe mich in Abgrenzung dazu bemüht, das Individuelle als Anreger und Initiator "gesellschaftlicher" Entwicklungen aufzufinden. Mich interessierte "Kultur" als ein Bildungs- und das heißt: Entdeckungsraum (der Passepartout-Begriff der "Emanzipation" stand lange - verblendend - dafür ein), nicht als eine wie auch immer verschleierte (politische) Aufzuchtsmaschine.

Die Begriffe "Sinnlichkeit", "Ästhetisches" beschreiben Funktionen der Selbstbewusstwerdung und damit auch der Anerkenntnis, dass der "Film", der in unserem Kopf abläuft, "tatsächlich" unser Film ist: "bio-graphisch" und deshalb einmalig. Sie thematisieren Prozesse der Selbstgewisswerdung (der Meinigkeit). Man kann "Sinnliches", besser: "Ästhetisches" physiologisch und neurophysiologisch vertiefen, somatisch verankern, so dass die Besonderheit des "In-der-Welt-Seins" eines jeden Individuums plausibel wird.

Mir ist diese sinnliche, nicht auf Rationalität reduzierbare Seite menschlichen (Er-)Lebens ein so wichtiger Grundpfeiler meiner Arbeit, weil ich damit etwas erklären kann, worüber bisher weniger nachgedacht wurde, nämlich: Was ist Gestaltungsvermögen? Was ist es, dass uns Menschen Dinge "entwerfen" lässt? Und das heißt: Was lässt uns die Umstände, die wir vorfinden, anders imaginieren als sie uns tatsächlich vor den Sinnen sind? Worin gründet das Vermögen, diese Umstände praktisch - wie es heißt - zu "verändern"? Welche Rolle spielen dabei bewusste, vorbewusste, nicht mehr bewusste Prozesse? Und: Ist diese, die Bewusstseinsschwelle unterminierende wie übersteigende Kreativität, von der es heißt, sie würde Menschen von allem anderen Getier unterscheiden - "Tiere entwerfen nicht" - tatsächlich ein so genanntes menschliches Spezifikum, das erst mit "dem Menschen" auftritt und an dessen gesellschaftliche (sprich: technischen)Vermittlungen gebunden ist? Oder steht Kreativität in einem längeren naturgeschichtlichen Entwicklungsprozess, der das, was vielen als unverrückbar "menschlich" gilt - die technische Dominanz von "Natur" - marginalisieren wird, weil Kreativität nicht auf Herrschaft geht (also Komplexität reduziert), sondern andere, informativere und reichhaltigere Realitäten hervorbringt und modelliert als jene, die den Kreaturen vor Augen und vor den Füßen liegen?

Das sind keine bloß scholastischen Fragen. An ihnen entscheidet sich, ob wir, wie noch immer viele meinen, unsere "Menschheit" (unsere "Kultur") der Technik zu verdanken haben und sich also in der Verschmelzung mit ihr unser Menschsein erfüllen wird oder ob das Technische auf Kultur gegründet ist und gegenüber einer technisch figurierten Welt auch Autonomie ("Freiheit") möglich ist. Diese Entscheidung jedenfalls steht in jedem Gestaltungsprojekt, das Technisches und Menschliches arrangiert, an.

Ich möchte hier ein paar Worte zum systemtheoretischen Ansatz von Günther Kracht sagen, den er eben vorgestellt hat und den man - wenn es bloß um Worte ginge - für kongruent zu meinem Denken halten könnte, weil auch Günter Kracht von Natur und Kultur spricht, indem er sagt, "Kultur (sei) … die Natur der Menschen". Die Verwendung gleicher Worte täuscht über ihren Doppelsinn hinweg - mein Denken ist seinem gegenüber diametral anders. Mich interessiert Kultur gar nicht als ein Konzept, das - wer auch immer - verwenden kann, um, wie Günter Kracht eben ausführte, das "Heteronome" und "Verschiedene" in eine - begriffliche oder gar machtpolitische - Klammer zu zwingen, um Prozesse in der Gesellschaft "zu beherrschen". Mich hat schon immer das Widerständige und Wider- ja Aussätzige gegenüber der Konformität von Religion und einer Kultur interessiert, die - durchaus modern und in atheistischer Allüre - zunächst als deren Substitut begrifflich figuriert wurde.

Mir ist die Verschiedenartigkeit von Individuen, die ich hier so hoch feiere, zunächst eine Beobachtung, kein moralinsaurer Wert "an sich". Es macht schon einen Unterschied, ob individuelle Verschiedenartigkeit zu exklusiven Lebensformen privatistisch zugerichtet ist, oder ob sie als Formen eines gesellschaftlichen Reichtums erscheinen, der auf dem Austausch der Differenz und Besonderheit individueller Erfahrung und individuellen Erlebens basiert.

Kultur, das sind in meiner hier locker wiedergegebenen Auffassung, die ("objektiven" wie "subjektiven") Bedingungen, die dem Einzelnen gegeben sind, aus sich etwas Besonderes zu machen. (Wir Menschen sind dabei zu poetischen Taten fähig, aber das Thema des Individuellen und seiner Reichweiten hebt an lange bevor Homo erectus seine Blicke über diesen Planeten schweifen ließ.)

Ich will mit dieser lockeren Bestimmung nicht allen anderen Kulturauffassungen gegenüber Recht haben. Auch nicht gegenüber Günter Kracht, dessen Plädoyer für eine systemtheoretisch fundierte Kulturauffassung sehr schön zeigt, dass Kulturwissenschaft - wie jede andere Wissenschaft auch - aus einer Vielfalt von Perspektiven und Methoden besteht, die dann ebenso vielen Interessenslagen gesellschaftlicher Akteure günstig oder auch ungünstig sind.

"Mein" Begriff und Konzept von Kultur ist meinem Engagement geschuldet im Bereich des Produktdesigns. Ich möchte Theorien weiterentwickeln, mit denen Designer etwas Produktives beginnen können, Theorien also, die einer Berufsgruppe hilfreich sind, deren Arbeit darin besteht, durch vorauseilende Empathie anderen Leuten Lebensmöglichkeiten zu eröffnen und anzubieten, Lebensmöglichkeiten (oder schlicht "Erlebnisse"), von denen diese Betroffenen vielleicht eine Ahnung hatten aber keine konkrete und ihnen verfügbare Form.

In den letzten zehn Jahren ist viel von "Kreativität", in den letzten sechs Jahren noch mehr von "Kreativen Industrien" die Rede. Wenn ich vorhin angedeutet habe, mich würde interessieren, was "Gestaltungsvermögen" in einer entwicklungsgeschichtlichen Perspektive ist oder warum es etwas wert sein kann, dann interessiert mich natürlich auch, was gestaltende Arbeit (in einem ökonomischen Sinne) "wert" ist, warum neuerdings Geld in kreative Industrien geschossen wird, damit es sich durch Gestaltungsarbeit rasch rentiere. Eine Antwort ist: sie lässt sich leicht ausbeuten. Das kann man natürlich nur sagen, wenn man weiß, was Ausbeutung ist. Ich musste darüber etwas nachdenken. Schließlich erschien es mir ökonomisch und kulturell passend, Ausbeutung (von Mensch und Natur) zu begreifen als das Unterlaufen der Reproduktionszeiten jener Ressourcen, um die es geht. So sind Gurken der Ausbeutung nicht besonders günstig, weil es sich hierbei um zyklische Produkte handelt, die alljährlich oder doch in absehbaren Rhythmen und unter starker Beteiligung der so genannten "freien" Güter - Licht, Luft, Wasser - heranreifen, wohingegen es sich für einige wenige lohnt, für Erdöl zum Geschoss zu greifen, denn hier reichen die Reproduktionszeiten weit über das Menschenleben, ja über das bisherige Menschengeschlecht hinaus - es entsteht Knappheit und mit ihr Ökonomien der Vorteilsnahme und der Konkurrenz.

Bei der Kreativität liegen die Dinge etwas, aber nicht prinzipiell anders, denn auch hier wird von Natur und Gesellschaft etwas entwickelt und bereit gestellt, dass im kapitalistischen Getriebe knapp gehalten, privat und konkurrierend ausgebeutet wird. Ich will das, worum es bei der Ausbeutung von Kreativität geht, der Einfachheit halber "neue Lebenswelten" nennen. Bezahlt wird im kreativen Sektor die Zeit, die es braucht, die Ideen zu diesen "neuen Lebenswelten" verwertungsbezogen zu kommunizieren: sie aufzuzeichnen, in Prototypen vorzustellen, ihre Reichweite zu präsentieren und ihre Implementierung in kulturelle Muster und in "Wertschöpfungsketten" zu argumentieren. Die Gemeinkosten hingegen, die nötig waren, um Individuen zu befähigen, virtuell und beispielgebend den Status quo ihrer kulturellen Situiertheit verlassen zu können, oder kurz, die Zeit, Ideen zu entwickeln und zu haben, diese Zeiten der Ausbildung einerseits und die ebenso anstrengenden wie oft auch trostfreien Zeiten der Ideensuche, der Konfrontation mit gleichgültig flimmernden Schirmen und weißen Blättern, das alles wird nicht entlohnt und damit dem Einzelnen, seinen Gefährten und der Gesellschaft zur Vergütung überlassen (in Rechnung gestellt).

Mit etwas Geld vom Freistaat, in dem ich arbeite, kann ich zur Zeit im Rahmen eines kleinen Institutes, das ich gemeinsam mit einem Kollegen vor Jahresfrist gegründet habe, und zwei MitarbeiterInnen, die ich für dieses Geld einstellen konnte, untersuchen, wie Gestaltungsarbeit in designgetriebenen Unternehmen unterschiedlicher Größenordnung in Europa und in den USA budgetiert wird, welche Macht man den Gestaltern in Erzeugnisentwicklungsprozessen einräumt und welchen Wert kulturelle Innovationen haben im Unterschied zur bornierten deutschen Auffassung, innovativ können nur Dinge sein, die technischen Entwicklungen entspringen.

Es sieht nämlich so aus, als wüchse den Designern eine neue Macht und Möglichkeit der Einflussnahme auf gesellschaftliche Prozesse zu. Seit das Geld, das mit dem An- und Verkauf von Unternehmen verdient wird, lukrativer ist, als das Geld, das mit der Herstellung von Produkten verdient wird, werden alte Arbeitsteilungen überholt. Designer arbeiten nicht mehr nur daran, das in Technologie investierte Kapital in möglichst viele Drapierungen zu kleiden, um die Behäbigkeit dieser Investitionen durch möglichst viele unterschiedliche Staffagen vergessen zu machen. Heute sind Designer an eine Stelle gerückt, die viel wertvoller ist als Staffage und Maskierung. Heute sind sie nötig, die Performance der Unternehmen an der Börse zu verbessern. Traditionen, langfristige Produktstrategien, festgelegte Maschinenparks sind da eher im Wege. Vorhersehbares erregt - bei Maklern - wenig "Phantasie". Die eine Seite dieses Prozesses ist (von Sennett) etwas schief mit "Flexibilisierung" benannt worden und hat die Zerstörung kultureller Gefüge zur Konsequenz. Die andere Seite aber gibt den "Kreativen" Macht in die Hand, denn sie können sich aufspielen als Kenner und Trendsetter kultureller Entwicklungen. Sie sind es, die gefragt werden, welchen "Inhalt" die Verwertung haben soll. Dafür hört man ihnen sogar längere Zeit zu.

Entlang dieses Prozesses erscheinen Gestalter (Designer) als Initiatoren oder Verstärker tiefgreifender kultureller Entwicklungen. Ohne Designer kein iPod, ohne iPod kein "Podcasting". Die technischen Lösungen, die zu dieser Entwicklung geführt haben, waren alle vorhanden. Selbst das berühmte Click-Wheel war - als technisches Prinzip - schon einmal auf dem Markt bevor die Designer bei Apple es verbauten.

Der Wert kultureller Innovationen im Unterschied zu bloß technisch intonierten ist auch Thema eines der nächsten Bücher von Form+Zweck, einer Publikationsreihe, die als Zeitschrift für Gestaltung in diesem Jahr 51 Jahre alt wurde und die im Verlag einer Kulturwissenschaftlerin der Berliner Schule erscheint - sie heißt Angelika Petruschat und hat zwei Jahre vor mir ihr Diplom gemacht.

Ein weiteres Buch, das Anfang Februar auf dem Tisch liegen wird, beschäftigt sich mit Tangible User Interfaces. Das sind Gestaltungsprojekte aus den Bereichen Kommunikationstechnik, Informatik und Design, die uns Computer und durch Computer gesteuerte Maschinen zugänglich machen sollen, ohne dass für diesen Zugang Tastaturen oder Wortbefehle oder Menüs erst mühsam erlernt werden müssen. "Tangible" heißt der Versuch, digitale Datenverarbeitung zu einem selbstverständlichen und damit auch intuitiv verwendbaren Teil unserer Lebensumwelt zu machen. Dabei geht es weniger darum, die Komplexität, zu der digitale Prozesse auflaufen können, auf weniger als vier An/Aus-Schalter zu reduzieren (und also zu verschleudern), damit jeder Depp sie, wie es so verräterisch heißt, "bedienen" kann, als vielmehr darum, das Unersetzbare digitaler Welten zu erkennen und es uns "analog" verfügbar zu machen. Das Buch wird im Februar auf der TEI 2008 (Tangible and Embedded Interaction), der wichtigsten Internationalen Konferenz zu diesem Thema vorgestellt (siehe www.formundzweck.de) und erscheint in Deutsch und Englisch.

Im letzten Jahr habe ich auch ein Designwörterbuch (deutsch/englisch) auf den Weg gebracht, das mit mittlerweile 10.000 Lemmata und einige Zeichnungen kurz vor der Drucklegung steht. Nach meiner Vorstellung ist das ein Zugang zur Fachsprachlichkeit im Design und hilft, all jene Kompetenzen zu erfassen, die für Gestaltungsarbeit notwendig sind und die sie in und für Kooperationen auch bereit hält.

Mit dem Wörterbuch geht es uns nicht um einen lexikalischen Anspruch in dem Sinne, dass wir definieren, was unter bestimmten Begriffen zu verstehen sei. Ich habe beobachtet, dass es eine Vielfalt von Arten gibt, in der Design geschieht und entworfen wird. Wir wollen diesen Reichtum nicht gleich im ersten Schritt definitiv platt machen. Worte sind in gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen "Bedeutungsanker", "tags", an denen bestimmte Bedeutungsfelder "festgemacht" und aufgerufen werden können. Deshalb interessieren uns in sprachübergreifenden Projekten eher die Unterschiede, mit denen Design in Deutschland und in anderen Ländern betrieben und kommuniziert, und d.h. zuerst ganz schlicht: wörtlich aufgefasst wird.

Wir planen Folgeausgaben in anderen Sprachkombinationen, um Entwurfsstile und Entwurfsmentalitäten in anderen Regionen der Welt kennen zu lernen und die Frage beantworten zu können, worin denn die besonderen Qualitäten von Ausbildungen, von kulturellen Entwurfskontexten bestehen und wie verschiedene Entwurfsmentalitäten zueinander passen. Wir erwarten auch, dass sich an der Diskussion um Worte in verschiedenen Kontexten ein Netzwerk an Personen bildet, die sich einen Gewinn davon versprechen, kulturelle Besonderheiten im Entwerfen zu erkennen.

Ich habe einige meiner Fragen hier angedeutet, weil ich mich auch freuen würde über Interesse an Zusammenarbeit auf diesem oder jenem Gebiet.


Jörg Petruschat studierte von 1979 bis 1984 Kulturwissenschaft und ist heute Professor für Kultur- und Zivilisationstheorie sowie für Geschichte der Gestaltung am Fachbereich Gestaltung der Hochschule für Technik und Wirtschaft Dresden (www.fb-gestaltung.de) und Leiter des Instituts für Innovation und Design "i_id" (www.institut-id.de). Er arbeitet für "form+zweck" (www.formundzweck.de) als Herausgeber und konzeptionsbildender Redakteur.



 Vorträge 1
Eckehard Binas


Eckehard Binas

Die Leere Mitte – Kommentar zu einem Konzeptlebenszyklus


Drei Zugänge erzählen, die mich dazu geführt haben, diesen Titel zu wählen:

1. Kulturwissenschaft und berufliche Lebensmitte
(mein beruflicher Weg und die Gründe und Kräfte die diesen Weg geprägt haben, Seefahrt, Musik, / FDJ-Kulturpolitik und –arbeit, Musikwissenschaft, Revitalisierung von „Brachen“, Kulturpolitikwissenschaft/Organisationsforschung, Themenentwicklung und -pflege in kulturpolitischen Kunstverbänden, Komponieren und tingeln / eremitischer Exhibitionist sein, Hochschulorganisateur mit eigener Meinung, (HS Zi/ Gr)).

2. Kulturwissenschaft als Königsweg bzw. Königswissenschaft und das Identitätsproblem. Ihr Weg in die Diversität, ihr Selbstverlust in den Ebenen der Applied Sciences, der empirischen Forschung und politisch, respective wirtschaftlich pragmatischen Forderungskataloge sowie ihre Wieder-Annäherung an das Stammtischverständnis ihres Zentralbegriffs. Komplementarität, Hilfsdisziplinen, Zweckehen …, was ist alles aus uns geworden, wer ist noch Kulturwissenschaftler / Kulturarbeiter? Brauchen wir noch einen angestrengten, widerstandsfähigen Kulturbegriff?

3. Applikationsversuche:
der (philosophische) Ansatz – Kultur ist Perspektivoption
die Beispiele (Aktie als Kulturform, Stauforschung, Kunst …)


Abstract:

Die (Berliner) Kulturwissenschaft beginnt ihren (Konzept-) Lebenszyklus in den Mauern der philosophischen Fakultät der HUB, probt den Aufstand und den Auszug, erprobt sich auf dem „Felde der Kulturarbeit während sich ihre immer noch wissenschaftliche Vorhut - inzwischen in der behütet beobachteten und gelegentlich bedrohten Experimentiernische – in Komplementär- und Zweigdisziplinen diversifiziert, Zweckehen mit Operationsfeldokkupanten, Definitionsjunkies und Parteiideologen eingeht. Inzwischen hat sie ihren Singular aufgegeben, liegt auf der Therapeutencouch und fragt – sich an die gute alte Zeit erinnernd – wer sie nun sei und warum sie nicht mehr mit sich selbst identisch, sondern eine Dame im mittleren Alter aber ausgestattet mit multiplen und gelegentlich unverträglichen Eigenschaften, also besetzt, besessen und dem Wahnsinn nahe. Im Übrigen ist wohl der Auszug in die Wüsten der empirischen Forschung gleich einem Realitätsverlust, für den Psychologen das Wort Wahnsinn gemeinhin verwenden. Frage ist nun: kehrt sie zurück in ihr Geburtshaus, das inzwischen Altenheim geworden ist? Oder versammelt sie alle gleich Leidenden zu einem Chor der Deskriptivisten, Pluralisten, politisch Korrekten, Unverbindlichkeitsartisten, Risikopropheten und Autoreferentialisten. Oder gründet sie endlich ihre eigene Fakultät? Mit anderen Worten: kann sie von der Couch springen und sehen, dass ihre Reife die einer methodologisch fundierten eigenen Disziplin ist, oder gar sehen, dass sich in wohl den meisten philosophischen Gebäuden ein unvermeidliches konstruktives, ja fundierendes, Stabilität erzeugendes Element findet, das ein Begriff, nein eine Kategorie „Kultur“, ein philosophischer Begriff ist, der zur Deklination ins Empirische und Praktische taugt, allerdings ohne nun wieder erneut den Leidensweg des Identitätsverlusts zu gehen, gehen zu müssen.

Ergo: Kulturwissenschaft, so sie sich eigenständig, autonom begründet, identitätsstiftend und nachhaltig konsistent und fachlich kohärent begründen will, beginnt bei Philosophie und steigt auch wieder in deren Abgründe zurück. Allerdings dann ohne dabei beim Aufstieg und Ausstieg in die Vielfalt jenes zu verlieren, was ihr den Namen verliehen hat.

Wo sie das nicht vermag oder anstrebt, leeret sie sich aus, ihre Mitte, ihre Identität, ihr Selbst wird leer. Und wer nun beruflich genau diese Mitte zu vertreten hat, wird zum Zirkusdirektor der Verschiedenheit und Kuriositäten, der hin und her springt zwischen Ethnologen retribalisierter europäischer Jugendkulturen, kulturpolitischen Kreisquadrateuren (Stichwort Soziokultur) oder den Unternehmensberatern, Regionalentwicklern, Rettern schrumpfender Regionen, schrumpfender Parteimitgliedschaften, den Kunstkonzeptjongleuren, Denkmalpflegern, Archäologen, Anthropologen und Design-, Architektur-, Sound- und Websiteavantgardisten, den Netzwerkutopisten, den neuen Bohemiens und vereinzelten Paläomoralisten.

Eckehard Binas ist Professor für Kulturgeschichte, Kulturphilosophie und Ästhetik am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Fachhochschule Görlitz – Universität für angewandte Wissenschaften. Dort betreut er auch den Studiengang „Kultur und Management“.