KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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TextKulturation 2/2006
Dietrich Staritz
Realer Sozialismus, Staatssozialismus, Staatskapitalismus – oder was ?
Wissenschaftliche Befunde zum Gesellschaftstyp DDR
Mit diesen und anderen mehr oder weniger griffigen Vokabeln, die zum Charakterisieren der sozialen Substanz der DDR gewählt werden, verbinden sich etliche Probleme, von denen ich vorerst drei nennen will.

Erstens werden sie nicht von allen mit der Intention benutzt, den Ertrag einer Gesellschaftsanalyse zusammenzufassen, sondern häufig auch oder zugleich in der Absicht, ein politisches Urteil zu formulieren. Sie können also sowohl als wissenschaftliche Termini daherkommen wie als Worte aus der Sprache der Politik.

Zweitens bilden die wissenschaftlich gemeinten die sozialen Realien immer auf einem relativ hohen Abstraktionsniveau ab, geben also nicht die tatsächlichen, widersprüchlichen Strukturen einer Gesellschaft wieder, sondern bringen sie zuweilen in eine Fasson, die in den Sozialwissenschaften seit Max Weber ein Idealtypus genannt wird. Und der hat nicht den Ehrgeiz, Wirklichkeiten möglichst adäquat zu erfassen, sondern ist gedankliches Komprimat einer bestimmten sozialen Konstellationen, nach Weber ein „Gedankengebilde“, das durch interpretierende „einseitige Steigerung... eines oder einiger Gesichtspunkte“ gewonnen und zu einem prägnanten Bild verdichtet wird.

Ebenso ist zu bedenken , dass es wohl nur sehr wenige Gesellschaften gab – eventuell die so genannten „primitiven“ –, die ganz und gar einem bestimmten Typus entsprechen, gleich, ob er empirisch oder wie der Webersche Idealtypus „einseitig“ durch intellektuelle Anstrengung gewonnen wurde. Vielmehr waren und sind alle Gesellschaften nur gemäß der jeweils vorherrschenden Form der gesellschaftlichen Produktion benannt, und so gesehen, gab es so wenig „reine“ Agrar-, Industrie- oder Dienstleistungsgesellschaften wie allein durch Technologien, Informationen oder Wissen geprägte. Sie gleichwohl einem Typus zuzuordnen, ist aber schon deshalb sinnvoll, weil es dabei helfen kann, die mittel- oder langfristigen Trends des sozialen Wandels zu identifizieren.

Drittens schließlich wäre es nicht vernünftig und im Übrigen auch kaum zu leisten, ein Gesellschaftssystem analytisch von seinem Herrschaftssystem abzulösen, schließlich sind bislang wohl alle Gesellschaften durch ungleiche Verteilung von Macht- oder Herrschaftspositionen, also objektiv politisch verfasst gewesen, waren also auch durch ihr politisches System vermittelt, die einen mehr, die anderen weniger. Im 2O. Jahrhundert eher mittelbar die privatwirtschaftlich geprägten westlichen Industriegesellschaften, eher unmittelbar die staatswirtschaftlichen, plangesteuerten Gesellschaften sowjetischen Typs, zu denen trotz ihrer Besonderheiten (Erbin des besiegten Aggressors, Teilgesellschaft) vernünftigerweise auch die DDR gezählt wird.

Und weil das so ist – ich bin nun beim Thema - hat sich die geschichts- und politikwissenschaftliche DDR-Analyse nach dem „Wende“ vor allem auf das Herrschaftssystem kapriziert, und es wurden, wie die Bilanzen des mittlerweile erreichten Forschungsstandes zeigen[1], nur sehr wenige gesellschaftstheoretisch orientierte Analysen vorgelegt. Das hing auch damit zusammen, dass viele zunächst wohl meinten, mit den seinerzeit revitalisierten Totalitarismus-Konzepten auch die Totalität der sozialökonomischen Beziehungen zutreffend beschreiben und begrifflich hinreichend komprimiert erfassen zu können. Aber auch jene Historiker, die sich später (und seither in relativ breiter Front) mit eher sozialhistorischen Fragen der DDR zuwendeten und ein insgesamt nuancenreiches Bild zeichnen, auch sie arbeiten mit einer eher politikwissenschaftlichen Begrifflichkeit. Sie beschreiben die DDR zumeist - im Vergleich mit den hochdifferenzierten westlichen Gesellschaften - als sozial weithin homogenisiert, gewissermaßen entpluralisiert oder als „entdifferenziert“[2] sowie als staatsozialistisch verfasst, bzw. als eine Gesellschaft, in der differierende Interessen, wenn überhaupt, nur in parteigesteuerten Institutionen und Verbänden verhandelt und in der Regel durch mehr oder weniger erzwungene Konsense berücksichtigt wurden. Sie gilt ihnen als „durchherrscht“, einigen jedoch aufgrund eines gewissen „Eigen-Sinns“ von Individuen, Kollektiven oder Milieus zugleich als teilresistent und die politische Ordnung, generell zutreffend, als Diktatur - mal mit dem Hinweis verbunden, dass sie nun schon die zweite in Deutschland und der ersten womöglich arg nahe gewesen sei, mal mit dem Adjektiv „modern“ (in Abgrenzung zur vormodernen Tyrannis), mal als „Konsens“- oder „Fürsorgediktatur“ bzw. als „paternalistischer Wohlfahrtsstaat staatssozialistischer Provenienz“[3] oder, eher spöttisch, als „Diktatur der Liebe“[4].

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Um den Gesellschaftstyp der DDR haben sich bislang allein Soziologen explizit gekümmert. Und für sie gab es da recht eigentlich keine grundsätzlich neue Frage. Denn so wie die nachstalinsche Sowjetunion von amerikanischen Soziologen - zu nennen ist hier vor allem Talcott Parsons[5] - als moderne Gesellschaft verstanden wurde, galt seit Dahrendorfs „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“ aus dem Jahre 1965 auch die DDR (wenn auch nie gänzlich unumstritten) - als modern, als modern im Sinne der Überwindung traditionaler, vom Feudalismus ererbter Strukturen: also nicht mehr durch eine herkunftsbedingte Schichtung, nicht mehr durch festgeschriebene Geschlechterrollen, nicht mehr durch Teilhabeblockaden geprägt, sondern durch industrielle Produktion und erhebliche soziale Mobilität bestimmt, zudem profaniert, also frei von einer religiös fundierten Kultur und Herrschaftslegitimation.

So besehen war die DDR damals für Dahrendorf „die erste moderne Gesellschaft auf deutschem Boden“, eine Gesellschaft, „in der die französische Revolution zu ihrem 1789 noch kaum geahnten äußersten Extrem geführt worden“ sei, eine Gesellschaft, in der die Menschen „am sozialen und politischen Prozess nahezu nur noch als öffentliche Wesen“ teilnähmen. Nicht als „Bürger“ freilich, fügte er hinzu, sondern als „Genossen“, weshalb er sich fragte, ob man denn diese Modernität wollen könne, ob sie „nicht das Ende aller menschlichen Fülle, ja aller Freiheit“ bedeute.[6]

Gleich, wie man seine Frage beantwortet: Für die Analyse sozialer Zusammenhänge taugen Kategorien wie „moderne Gesellschaft“ oder „die Moderne“ tatsächlich nur bedingt. Und das nicht nur, weil sie der Werbealltag beinahe verschlissen hat, sondern auch deshalb, weil sie recht eigentlich nur eine konkrete Vor- und eine unbestimmte Nachmoderne zulassen und so geräumig sind, dass unter ihrem Dach sowohl die Aufklärung wie das Nazireich und eben auch die DDR Platz finden.

Weshalb denn auch vorgeschlagen wurde, die Nazidiktatur – bloß scheinbar paradox - als „reaktionären Modernismus“ zu kennzeichnen[7] – worauf ich hier nicht eingehen kann - während mit Blick auf das Vergesellschaftungskonzept sowjetischen Typs und also auch auf die DDR, wenn auch noch vage, von der „anderen Moderne“ gesprochen wird. (Ettrich). Was daran erinnern soll, dass der östliche Modernisierungspfad ursprünglich ja zum selben Ziel führen sollte wie der westliche, zum Einlösen der großen Losungen von 1789, jedoch im weithin vormodernen Russland durch ein Gelände führte, das die Modernisatoren – um im Jargon zu bleiben – mit eher „vormodernen“ Methoden erschlossen, was sie schließlich veranlasste, auch ihre Ziele zu modifizieren. Erst die sowjetischen Avantgardisten, dann ihre weltweite Nachhut.

Wer Dahrendorfs Frage, ob man diese Modernität denn wollen könne, mit Nein beantwortete, modernisierungstheoretische Ansätze aber für nützlich hielt, jedoch nur Positives modern nennen mochte, für den lag es nach 1989 nahe, die ostdeutsche Gesellschaft als nichtmodern, antimodern oder als vormodern zu charakterisieren, oder sie wie Artur Meier[8] als einen vertikal gegliederten „Ständestaat mit Kastenherrschaft“ und ständig wachsendem Modernisierungsrückstand zu beschreiben. Und auch der systemtheoretisch argumentierende Detlef Pollack, der die DDR ansonsten als eine, wenn auch mit erheblichen Abstrichen moderne Gesellschaft begreift, skizzierte beim eher heiteren, jedoch sehr präzisen Benennen dessen, was er die ostdeutsche „Organisationsgesellschaft“ nennt, durchaus vormodern- hierarchische Verhältnisse, wenn er formulierte: „Die SED-Führung behandelte die DDR-Gesellschaft wie eine Organisation, die auf ein bestimmtes Führungspersonal, ein festes Programm und eine vorgegebene Struktur verpflichtet werden kann. Den einzelnen Bürger sah sie als Mitglied dieser Organisation an. Von ihm erwartete sie, dass er dem fixierten Programm folgt und von ihm nichts weniger als begeistert ist. Im Unterschied zu Organisationen in modernen Gesellschaften war es in der Organisationsgesellschaft DDR jedoch nicht erlaubt auszutreten“.[9]

Nun liefern, wenn Soziologen von der modernen Gesellschaft sprechen, gewöhnlich die westlichen Industriegesellschaften die Kriterien, anhand derer die anderen evaluiert werden, sowohl die der politisch versunkenen Zweiten Welt als auch die der jetzt nicht mehr so genannten Dritten. Unter diesem Aspekt hat denn auch Habermas den Untergang der Gesellschaften sowjetischen Typs als eine „nachholende Revolution“ gedeutet, die den Weg frei gemacht habe für einen gesellschafts- wie verfassungspolitischen Anschluss an das Erbe der bürgerlichen Revolution und die Verkehrs- und Lebensformen des entwickelten Kapitalismus.[10] Das Orientieren an diesen Kriterien kann jedoch – denke ich – so lange als vernünftig gelten, so lange auch Entscheidungen über Pfade in die Zukunft respektiert werden, intellektuell wie politisch, die von dem abweichen, den die heute vermeintlich hochentwickelten Gesellschaften gegangen sind, einschließlich ihrer Umwege, Sackgassen und Opfer. Denn so unterschiedlich die Bedingungen auch sein mögen, unter denen sich sozialer Wandel vollzieht, es lässt sich von der „ersten Welt“ durchaus lernen, aus ihren Fehlern ebenso wie aus ihren Erfolgen.[11]

Auch dafür, wie eine Gesellschaft von demokratisch-sozialistischem Zuschnitt verfasst sein sollte und wie nicht, liefern ihre Erfahrungen Anhaltspunkte -: für eine Gesellschaft, die möglichst produktiv und solidarisch funktionieren und sich so organisieren will, dass sie möglichst Vielen Freiheit und Chancengleichheit gewährleistet und zugleich strukturell fähig bleibt, den Wandel ihrer Binnenverhältnisse und Umweltbedingungen produktiv zu verarbeiten, ohne ihre Verfassungsprinzipien in Frage zu stellen. Zu den Voraussetzungen einer solchen Fähigkeit zu innovativer Problemverarbeitung zählen Modernisierungstheoretiker wie Wolfgang Zapf - bewusst allgemein - die Konkurrenzdemokratie, eine wettbewerborientierte Wirtschaftsweise sowie den Wohlfahrtsstaat samt Massenkonsum und Sozialstaat. Sie gelten ihm als die Grundinstitutionen der modernen Gesellschaft, und er geht – und zu Recht – davon aus, dass Gesellschaften die diese Institutionen entwickeln, erfolgreicher, anpassungsfähiger, d.h. „moderner“ sind als die, die es nicht tun.[12]

Allerdings haben diese Theorien, auch wenn sie so offen gehalten werden, ein „Geschmäckle“, wie man im Südwesten sagt. Schon, weil der Großteil ihres „Materials“ aus der Geschichte der westlichen Gesellschaften stammt, haftet ihnen der Geruch des Normativen an; und zuweilen sind sie ja auch so gemeint. Dennoch lassen sich mit ihnen recht gut die Defizite bestimmen, deretwegen die Gesellschaften der„anderen Moderne“ die Systemauseinandersetzung verloren und schließlich untergingen. Eine elaborierte Mängelliste findet sich bei Pollack. Auch wenn er zuweilen eher idealtypisch gebildete Strukturelemente der modernen Gesellschaft heranzieht und an ihnen die DDR misst, hat er doch die Differenz zwischen der Papierform und ihrer Realität im Blick. So überzeichnet er zwar die Funktionstüchtigkeit der westlichen Gesellschaften ein wenig, nicht aber die Funktionsschwächen der DDR. Sein wesentlicher Befund: Die sozialen Strukturen der DDR seien durchaus modern gewesen, ihre Entwicklungspotentiale aber durch politisch induzierte Modernisierungsbarrieren erheblich behindert worden.[13]

Zu ähnlichen Resultaten kommt bei seiner kritischen Durchsicht der einschlägigen Forschungsresultate Frank Ettrich. Allerdings stieß er auch auf Studien, die mit herrschaftstheoretischen Ansätzen Weberscher Provenienz die Gesellschaften des sowjetischen Typs als neotraditionalistisch, als vormodern also, deuten, indem sie die herrschende Partei und ihre Funktionsweise als charismatisch charakterisieren und ihren Funktionärskörper als eine Ständeorganisation interpretieren, deren materielle und politische Interessen vorrangig ihr selbst galten und erst dann dem Lande. Ettrich verweist dazu u. a. auf eine Studie des amerikanischen Sowjetologen Ken Jowitt[14], der diese Lesart am Beispiel der Breschnjewschen Sowjetunion formulierte. Und gleich, ob man die nun neotraditionalistisch nennen mag: Seine Aussagen über die Klientel- und Privilegienordnung dort hatten mit der Wirklichkeit tatsächlich viel gemein.

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Bin ich auf dem Laufenden, dann wurden die Strukturen der DDR bislang nur von Meyer[15] so beurteilt. Beim Blick auf die Bräuche der ostdeutschen Führer wird seit dem (von vielen wohl ohnehin nur behaupteten) „Wandlitz-Schock“ kaum noch auf den relativ freien Zugriff der Spitzenkader auf Westimporte und Villen als Charakteristika des Herrschaftssystems zurückgegriffen oder auf das „Durchstellen“ ihrer Entscheidungen auf die mittleren und unteren Ebenen oder das Eingabewesen als gewissermaßen vormoderne Herrschaftsformen. Und auch ihre befremdlichen Jagdgelüste oder die Herrenabende in aristokratisch abgelegenen Jagdhäusern gelten – und wohl zurecht – mehr als Indizien für die kulturevolutionären Intentionen und Horizonte dieser Männer denn als Belege für neotraditionalistische Herrschaft.

Statt dessen gilt die Aufmerksamkeit dem Staat. Als staatskapitalistisch jedoch wird die DDR – so weit ich sehen kann - heute nur noch von denen rezipiert, die trotzkistische Analytiker[16] gelesen haben, die anmerkten, dass in den Blockländern das gesellschaftlich Erzeugte wie im Kapitalismus nur von wenigen und nicht gesellschaftlich angeeignet wurde, von der parteietatistischen Bürokratie, die es gemäß ihren Interessen und ihrer Deutung des gesellschaftlich Notwendigen verwaltete und umverteilte. Dabei berücksichtigen diese Autoren allerdings nicht, dass der Kapitalismus vom Privateigentum begrifflich recht eigentlich nicht abzutrennen ist.

In den Siebzigern noch, im Kontext des chinesisch-sowjetischen Zerwürfnisses, hatten alle Maoisten die Gesellschaften sowjetischen Typs als revisionistisch zu verurteilen, als Gesellschaften auf dem Rückweg zum Kapitalismus, weil man im „sozialistischen Lager“ damit begonnen hatte, die zentralistische, auf Mengen zielende Wirtschaftsplanung aufzulockern. Das Ziel, eine an Kosten, Gewinn, und Gebrauchswerten orientierte Wirtschaftsweise, galt damals in China als konterrevolutionär.[17] Wie man darüber heute an der Pekinger Parteihochschule denkt, weiß ich nicht.

Gegenwärtig dominiert, wenn die Gesellschaften sowjetischen Typs verortet werden sollen, das Koppeln von Staat und Sozialismus.[18] Mit der generalisierenden Titulatur, mit dem „sowjetischen Typ“, habe ich keine Schwierigkeit. Schließlich ist unstrittig, dass sich die Führungen der Blockstaaten beim Umbau, wenn auch nicht immer beim Ausbau ihrer Gesellschaften weithin am Modell der Sowjetunion orientierten und auch zu orientieren hatten, dass trotz der erheblichen sozialstrukturellen, ökonomischen und politisch-kulturellen Entwicklungsunterschiede überall politische Systeme des selben demokratisch-zentralistischen Zuschnitts entstanden, weil alle dem Lenin-Stalinschen Konzept der Partei neuen Typus folgten, alle die wesentlichen Produktionsmittel verstaatlichten und verbindliche Produktions- und Verteilungspläne formulierten, was wiederum überall die Führungskader in die Lage versetzte, die Entwicklung der Gesellschaft auch durch die Kontrolle ihrer materiellen Ressourcen zu steuern.

Was es allerdings rechtfertigt, diesen Vergesellschaftungsmodus als sozialistisch zu kennzeichnen, wird in der Regel so wenig diskutiert wie die Frage, was diesen „Staatsozialismus“ von dem früher so genannten unterscheidet, etwa von Lassalles Idee, mit Hilfe des (Bismarck-) Staates Produktivgenossenschaften der Arbeiter zu schaffen, um so zu einem Mehr an sozialer Gerechtigkeit zu kommen (was Marx als Irrweg verwarf, die Sozialdemokratie aber als Option aufbewahrte), oder von dem, der Bismarcks Entscheidung für eine Staatsbahn nachgesagt wurde, bzw. dem, den in Deutschland heute gern die Marktradikalen zitieren, wenn sie das „Verschlanken“ des ihnen immer noch zu fetten Sozialstaats fordern.

Zwar hat Wolfgang Engler schon 1992 „Versuche über den Staatssozialismus“ veröffentlicht[19], vier Jahre später präsentierte Michael Schneider eine „Bilanz des Staatssozialismus“[20], im Jahre 2003 war der bereits zitierte Detlef Pollack „Auf dem Wege zu einer Theorie des Staatssozialismus“, und im vergangenen Jahr schließlich legte der ebenfalls schon genannte Frank Ettrich mit seiner Aufsatzsammlung „Die andere Moderne“ „Soziologische Nachrufe auf den Staatssozialismus“ vor.
Doch weder in den Texten, die das Phänomen bilanzieren wollen, noch in denen, die es theoretisieren möchten, und schon gar nicht in den vielen, die das Wort wie eine etablierte Diskurs-Münze in Umlauf halten, gibt es mehr als beiläufige Verweise auf Staatseigentum, Planwirtschaft, Parteiherrschaft und Sozialstaatlichkeit, also auf Elemente der Gesellschaftsverfassung, die so wohl noch nicht einmal den bescheidenen „realsozialistischen“ Erwartungshorizont von Kommunisten der Honecker-Generation ausfüllten, und noch viel weniger der Intention des klassischen Sozialismus-Vision entsprechen. Bei anderen Nutzern scheint das Wort dagegen schlicht für das zu stehen, wohin in ihrer Sicht alle Formen von Gemeinwirtschaft und Kollektivität notwendig führen müssen: zum Ende der Vernunft des Marktes und zur staatlichen Reglementierung aller sozialen Verhältnisse.

Gemeinsam ist beiden Lesarten mithin das Repetieren dessen, was an der DDR und ihrem Herrschaftsgefüge ganz offensichtlich war, die parteistaatliche Verfügung über die wesentlichen materiellen Ressourcen der Gesellschaft sowie über die Institutionen und Verfahren, die für die Sozialisation und Kommunikation ihrer Mitglieder geschaffen wurden. Und gemeinsam ist ihnen damit implizit der Verweis auf den eklatanten Mangel an dem, was in der Tradition der Arbeiterbewegung recht eigentlich als Sozialismus gilt, nämlich ein „erhebliches Maß an Volksherrschaft, Selbstverwaltung, Produzentendemokratie und Mitbestimmung der arbeitenden Massen“, wie es Ossip Flechtheim einmal gebührend allgemein zusammenfasste.[21] Die Entwicklung der Ostblockgesellschaften jedoch wies, anfangs noch stärker als später, in eine andere Richtung. Hier wurde – ironischerweise unter Berufung auf Marx und Engels – nicht der Staat vergesellschaftet, sondern – da folge ich Sigrid Meuschel - die Gesellschaft tendenziell verstaatlicht, jedenfalls beim Ausprägen ihrer Pluralität und der Artikulation ihrer unterschiedlichen Interessen blockiert.[22]

Vom Klassenziel war die DDR also weit entfernt, und misst man mit Flechtheims Maßstab, dann lassen sich allenfalls in einigen Gesetzen, Regelungen und Institutionen potenzielle Keime demokratiedienlicher Verfahren ausmachen, beispielsweise in der verfassungsrechtlichen Ausstattung des FDGB, in den Betriebskollektivverträgen, in der Plandiskussion, in den Wählervertreterkonferenzen, in den Konfliktkommissionen und Gesellschaftlichen Gerichten oder – ebenfalls bloß in Spurenelementen – in der potentiell intermediären Funktionsweise der Massenorganisationen und Blockparteien. Mögliche Keime, wie gesagt, denn bis zuletzt funktionierten diese Verbände fast ausschließlich als Transmittoren der Zentrale. Eine Informations-, Konfliktpräventions- oder gar Konsultationsfunktion wurde ihnen fast nur von auswärtigen Beobachtern zugeschrieben. Im DDR- Alltag wirkten sie in der Regel als Elemente des vielgliedrigen Herrschaftsapparats von oben nach unten.

Erst in den letzten Jahren der DDR, unter dem Eindruck der schließlich auch in der Parteispitze wahrgenommenen ökonomischen und politischen Krise des Landes, aber auch angeregt von „Glasnost“ und „Perestroika“ kamen bei der republikweiten Suche nach „Reserven“ und womöglich brachliegenden „Triebkräften“ auch die Strukturen und Organisationen des politischen Systems in den Blick. So erwartete der X. SED-Parteitag von den Blockparteien und Massenorganisationen „eigenständige Beiträge“ zur „gemeinsamen sozialistischen Sache“, und 1983 beschwerte sich der Hochschulminister Hans-Joachim Böhme (gewissermaßen im Vorgriff auf Gorbatschow) über die FDJ-Vertreter in den Leitungsgremien der Hochschulen, die dort viel zu passiv agierten, obwohl man doch die „offene, aktive, kritische, wenn auch manchmal über das Ziel hinausschießende Einschätzung und Meinung unserer Studenten“ brauche „wie die Luft zum Leben“, um „realistische Einschätzungen zu erhalten ...“[23] Doch dazu war die FDJ so wenig in der Lage wie die anderen in Jahrzehnten auf Erziehung und Mobilisierung trainierten Verbände, zumal unklar blieb, ob auch eine Änderung der hemmenden Rahmen-, genauer: der Anleitungsbedingungen vorgesehen war, unter denen sie bis dahin arbeiteten.

Selbst unter reformerischen Staats- und Sozialwissenschaftlern blieb offenbar strittig, wie weit man gehen könne. Zwar war einigen 1985 bewusst, dass „bereits die notwendige Verbindung von ökonomischer Dynamik und politischer Stabilität ein Verständnis der Stabilität als bloße Beharrung“ ausschließe. Und 1986 stichelten die selben, für „die Wirksamkeit politischer Strukturen“ „sei entscheidend, „dass sie dem lebendigen Dialog zur Ermittlung und Durchsetzung der Interessen Raum geben“, wozu „die Einführung bzw. der Ausbau von Konsultationsmechanismen in die Elemente der politischen Organisation der Gesellschaft“ eine „wesentliche Bedingung“ sei, wobei wiederum einer „breiten Öffentlichkeit“ eine „außerordentliche Rolle“ zukomme, denn nur sie gewährleiste, dass die Interessen tatsächlich „zutage treten“ und bewertet werden können. Das waren ziemlich unverhüllte (und deshalb auch nur im nur bedingt zugänglichen „Bulletin Wissenschaftlicher Kommunismus“ sowie in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie publizierte) Plädoyers für die Demokratisierung der DDR. Doch sie waren inkonsistent, weil die Diskutanten das Konzept der „führenden Rolle“ der Partei nicht thematisieren wollten (oder konnten) und ihre Stoßrichtung nur vage angaben, wenn sie formulierten, es sei besser, „akzeptierte politische Formen mit neuen Inhalten auszustatten, als neue Formen in der Gesellschaft zu installieren“.

Doch ihre zentrale (system- wie modernisierungstheoretisch inspirierte) Aussage, die notwendige Verbindung von ökonomischer Dynamik und politischer Stabilität schließe ein „Verständnis der Stabilität als bloße Beharrung“ aus, war offenkundig an die gelähmte DDR-Führung adressiert und ließ sich als Paraphrase einer Überlegung lesen, die Talcott Parsons schon 1964 als „Prognose“ formuliert hatte: Die „kommunistische Gesellschaftsorganisation“, schrieb er, werde sich „als instabil erweisen und entweder Anpassungen in Richtung auf die Wahlrechtsdemokratie und ein pluralistisches Parteiensystem machen oder in weniger entwickelte und politisch weniger effektive Organisationsformen ’regredieren’“[24], also im Systemwettbewerb nicht bestehen.

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Wer also die DDR-Gesellschaft als staatssozialistisch verfasst beschreiben will, kann sich beim Blick auf den Staat auf breite und seriöse Überlieferungen stützen, die seine bedeutende (und zuweilen überwältigende) Rolle als Instrument der Partei belegen. Es wird ihm aber schwer werden, die sozialistische Substanz der Gesellschaft nachzuweisen. Wer das Label trotzdem wählt und nicht aus Not um einen angemessenen Begriff oder in der Absicht, ihn generell zu diskreditieren, der geht wohl davon aus, der Sozialismus sei ein grundsätzlich vernünftiges, freilich zeitaufwendiges Projekt und nutzt den Terminus zum Erfassen jener Phase, für die die „Klassiker“ dem siegreichen Proletariat empfohlen hatten, sich als Staat zu konstituieren, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, es vorübergehend in den Händen des Staates zu zentralisieren und die Produktionsmittel dann in die Verwaltung der „assoziierten Produzenten“ zu geben. Für den war die DDR anscheinend eine Übergangsgesellschaft, die den Staat zwar noch brauchte, sich demnächst aber selbst verwaltet hätte, wäre ihr nur mehr Zeit geblieben. Zumal ja nach Marx und Engels, die Besitzergreifung der Produktionsmittel durch den Staat, „sein letzter selbständiger Akt als Staat“ war, sein „Eingreifen in gesellschaftliche Verhältnisse“ nach und nach „überflüssig“ werde und er schließlich „von selbst“ einschlafen könne.[25] Das war eine Vision, die offenbar bei vielen bis zuletzt lebendig blieb und einige immer wieder zur Kritik an der Realität des bürokratischen Etatismus herausforderte. Bahro nannte das in der DDR Gewordene daher „Sozialismus im Larvenstadium“, oder „Protosozialismus“[26], und Mandel hielt die Gesellschaft sowjetischen Typs für eine „eingefrorene Übergangsgesellschaft“.[27] Womit beide andeuteten, dass diese gesellschaftliche Verhältnisse trotz ihrer Deformation entfaltet oder aufgetaut werden könnten.

In diese Richtung dachte in den Führungsetagen des „sozialistischen Lagers“ allerdings kaum noch jemand. Schon seit der Zeit, in der sich Lenin vom Theoretiker zum praktizierenden Politiker wandelte, und erst recht nicht mehr, nachdem Stalin seinen Marxismus-Leninismus durchgesetzt, die aktive Rolle des Überbaus dogmatisiert, den Staat als Hauptinstrument beim Aufbau des Sozialismus ideologisch legitimiert hatte und es lebensgefährlich wurde, so zu denken. Immerhin aber wurde nach seinem Tod in der KPdSU und in anderen Kommunistischen Parteien wieder über den Wandel des Staates und seiner Funktionen diskutiert, statt von der Diktatur des Proletariats vom Staat des ganzen Volkes gesprochen und prognostiziert, man werde nach relativ kurzen Zwischenetappen in näherer Zukunft zum Kommunismus gelangen.

Auch wenn die Etappenziele im Wesentlichen ökonomisch definiert waren, so gab es doch in den sechziger Jahren unter Philosophen und professionellen Parteiarbeitern einen schließlich auch parteiprogrammatisch fixierten Konsens darüber, dass Staatsfunktionen sukzessive in die Gesellschaft zu verlagern, also zu vergesellschaften seien und der Staat mit dem Einebnen der Klassen seine Bedeutung verlieren, also, wie einst antizipiert, „absterben“ oder „einschlafen“ werde. Offen blieb allerdings, wann das angesichts des kräftigen kapitalistischen Widerparts abgeschlossen werden könne. Und ausgemacht war auch noch nicht, was aus der Partei werde, wenn es ihr gelungen sei, alle Gesellschaftsglieder auf ihr intellektuelles Niveau zu heben, sie ihr Bewusstsein also nicht mehr ins Volk tragen müsse.

Zwar wurden diese Diskussionen damals vor allem in der Sowjetunion geführt. Doch vielleicht gab es auch in der DDR-Führung noch Erinnerungen an die eigentliche Substanz des Sozialismus-Projekts. Und neben der erhofften Magnetwirkung einer sozialistischen DDR auf den Westen des Landes waren es eventuell auch sie, die Ulbricht veranlassten, dieses Ziel nicht durch voreilige Vollzugsmeldungen zu diskreditieren. Jedenfalls wurden seit 1952 erst die „Grundlagen des Sozialismus“ errichtet, dann,1958, die „Vollendung des sozialistischen Aufbaus“ zum Programm“, 1963 (nach der Kollektivierung) nicht der Aufbau des Sozialismus abgeschlossen, sondern nur der „Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse“ konstatiert und 1967 programmatisch mit der „Gestaltung des entwickelten Systems der Sozialismus“ begonnen, wobei der Sozialismus als „relativ eigenständige Gesellschaftsformation“ galt, also nicht als kurze Etappe auf dem Wege zum Kommunismus, sondern als etwas, was sich auf seinen „eigenen Grundlagen“ entwickeln werde. Anders als die anderen KP-Führer wollte Ulbricht von einem Sieg des Sozialismus noch nicht sprechen, dafür sei ein „höheres Niveau“ erforderlich, womit er Recht hatte.

In diesen Kontext gehört auch der in den sechziger Jahren unternommene Versuch, das System der zentralistischen Detailplanung und die Leitungsstrukturen so zu reformieren, dass sie mit der Dynamik der Weltwirtschaft Schritt halten, wohlstrukturiertes Wachstum fördern und Innovationen beschleunigen können. Zwar ging damals wohl kaum einer der NÖS - Strategen so weit, im Interesse dieses Ziels die Entscheidungskompetenz der Führungsgremien wirklich in Frage zu stellen, oder wie Fritz Behrens in den fünfziger Jahren für die „Selbstverwaltung der Wirtschaft durch die Werktätigen“ auf der Grundlage von Daten einer Rahmenplanung zu plädieren, weil doch die Vorstellung, „dass der Staat alles könne“ und sich um alles kümmern müsse, „auch um die privateste Angelegenheit“, weder ökonomische Effizienz bewirke noch sozialistisch sei, sondern recht eigentlich „preußisch“.[28] Dennoch war den Akteuren durchaus bewusst, dass mit den überkommenen starren Strukturen, Verfahren und Denkfiguren die gewünschten Effekte nicht zu erreichen waren, dass es dafür, woran seinerzeit zuweilen Uwe-Jens Heuer erinnerte, der Demokratie bedürfe, die er als die „Fähigkeit der Menschen“ definierte, „individuell oder kollektiv über die eigenen Angelegenheiten zu entscheiden“[29], sich also selbst zu regieren.

Doch in Sorge um die Macht verzichtete die Parteiführung auf tiefer greifende Reformen, bewirkte vielmehr durch halbherzige und widersprüchliche Entscheidungen auf der Grundlage illusionärer Prognosen zu Beginn der siebziger Jahre eine krisenhafte Situation. Und da das Experimentieren mit der Planwirtschaft in der Sowjetunion unter Breschnjew ebenso als Abweichung galt wie Ulbrichts eigenwilliges Periodisieren der gesellschaftlichen Entwicklung, wurde unter Honecker rezentralisiert; und wie die Führer der anderen Blockstaaten ihre Länder, nannte nun auch die SED die DDR eine „entwickelte sozialistischen Gesellschaf“. In der aber sollte die Bedeutung des Staates nicht ab-, sondern im Gegenteil kontinuierlich zunehmen. Nicht nur, weil „die öffentliche Gewalt niemals ihren politischen Charakter verlieren“ könne, „solange der Kommunismus nicht im Weltmaßstab“ gesiegt habe, wie es hieß, sondern ebenso deshalb, weil die Partei die Gesellschaft und deren Zukunft eben auch weiterhin mit dem Staat, ihrem Hauptinstrument, zu gestalten gedenke. So etwa steht es noch in der letzten Auflage der letzten Ausgabe des Kleinen politischen Wörterbuchs aus dem Jahre 1989.[30] Sicher, ich habe den Text ein wenig gerafft, aber wesentlich beredter oder gar plausibler erläutert er den prognostizierten Bedeutungszuwachs des Staates nicht, auch wenn er schon ein bißchen anspruchsvoller ist als die 1972 in Umlauf gebrachte intellektuell deprimierende Formel vom „real existierenden Sozialismus“, die noch nicht einmal dieses Wörterbuch für erwähnenswert hielt.

Auch so gesehen gibt es also keinen Anlass, die DDR, so wie sie war, als „auf dem Sprung“ zu begreifen, als eine Gesellschaft, die von der Partei zum Sozialismus geführt werden sollte, zwar noch vom Staat regiert, also gewissermaßen noch „staatssozialistisch“, demnächst aber sich selbst verwaltend.

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Nun ist allerdings zu fragen, ob die Gesellschaften sowjetischen Typs (unabhängig vom Vergesellschaftungskonzept der kommunistischen Parteien) mit dem Marx/Engelsschen Konzept der Übergangsgesellschaft überhaupt angemessen analysiert werden können. Schließlich gingen deren Überlegungen ja von der Annahme aus, die Revolution werde in den hochentwickelten Ländern und „auf einmal“ passieren, dort, wo die „Macht, gegen die man revolutioniert“, die „Masse der Menschheit als durchaus ‚Eigentumslos’ erzeugt und zugleich“ in „Widerspruch zu einer vorhandenen Welt des Reichtums und der Bildung“ gebracht habe, was beides eine „große Steigerung der Produktivkraft und einen hohen Grad ihrer Entwicklung“ voraussetze, und dieser Entwicklungsstand der Produktivkräfte schon deshalb eine „absolut notwendige praktische Voraussetzung“ für den Erfolg der Revolution sei, weil ohne ihn „nur der Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich [wieder] herstellen müsste.“ Eine in ihrer Sicht „absolut praktische Voraussetzung“ aber auch deshalb, weil der Kommunismus „als Lokalität“ nicht existieren könne, ihn „jede Erweiterung des Verkehrs“ vielmehr „aufheben“ würde, weshalb er „empirisch nur als die Tat der herrschenden Völker ‚auf einmal’ und gleichzeitig möglich“ sei.

Auf diese Stelle folgte in der 1957er Ausgabe der Deutschen Ideologie, in der ich diesen Text zum ersten Mal las[31], die redaktionelle Anmerkung Nr.8. Sie lautet: „Die Schlussfolgerung, daß die proletarische Revolution nur gleichzeitig in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern möglich sei und es damit unmöglich wäre, die Revolution in einem einzelnen Land siegreich durchzuführen, fand ihre endgültige Formulierung in Engels’ Schrift ‚Grundsätze des Kommunismus’ (1847); sie war richtig für die Periode des vormonopolistischen Kapitalismus. Unter den neuen historischen Bedingungen [jedoch] kam W.I. Lenin, ausgehend von dem von ihm entdeckten Gesetz der Ungleichmäßigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung des Kapitalismus in der Epoche des Imperialismus, zu der neuen Schlussfolgerung, daß der Sieg der sozialistischen Revolution zunächst in einigen oder sogar nur in einem einzelnen Land möglich sei und hob damit die Unmöglichkeit des gleichzeitigen Sieges der Revolution in allen oder den meisten Ländern hervor.“

Das hat mich damals zunächst getröstet, dann aber stutzig gemacht, weil es Marx und Engels 1843 doch darum gegangen war, die Voraussetzungen für einen Erfolg des von ihnen noch ohne sozialistische Vorstufe gedachten Kommunismus-Projekts gedanklich einzukreisen, und die waren doch in Russland überhaupt nicht und international ebenfalls nur bedingt gegeben. Weshalb sich Marx auf Anfragen russischer Revolutionäre stets so skeptisch äußerte wie in seiner 1882er Vorrede zur russischen Ausgabe des „Manifests“. Und diese Einsicht gehörte zum Gemeingut der europäischen Sozialdemokratie, war Plechanow so präsent wie Lenin, der daraus allerdings nicht den Schluss zog, die Modernisierung Russlands abzuwarten, sondern meinte, es ei möglich, die anstehende bürgerlich-demokratische Revolution in eine sozialistische überzuleiten, zugleich aber immer wusste, dass dieser Gedanke nur dann eine Chance hatte, wenn „die russische Revolution das Signal einer proletarischen Revolution im Westen [werde], so daß beide einander ergänzen...“, so, wie es Marx in der erwähnten Vorrede formuliert hatte.[32]

Erst später lernte ich, dass in der Anmerkung Nr. 8 nicht nur dieses nachklang, sondern auch jene Zeit, in der in der Sowjetunion angesichts der ausgebliebenen Revolution im Westen darüber gestritten wurde, ob Sozialismus nicht gleichwohl in nur einem Lande möglich sei, in Russland. Eine Debatte, die schließlich von Stalin entschieden wurde und in der Politik mündete, die Dahrendorf später fragen ließ, ob man diese Modernität denn wollen könne. Schon in den dreißiger Jahren hatte das Karl August Wittfogel [33] dazu anregt - in seiner Nachfolge während der Siebziger auch Rudi Dutschke[34] und Rudolf Bahro[35] - die Vergesellschaftungsweise der Sowjetunion mit Blick auf das „halbasiatische“ bzw. „despotische“ Erbe Russlands, zu untersuchen , aber auch in Anbetracht der Stalinschen Grausamkeiten und des bürokratischen Etatismus danach.

Nach dem Ende des „sozialistischen Lagers“ und beim Anschauen der DDR zitierte denn auch der Philosoph Peter Ruben die Marx/Engels Metapher vom „rohen Kommunismus“, der aus einer unzeitgemäßen Revolution folgen müsse[36], und ein paar Jahre später fand der Soziologe Frank Ettrich[37] die „beeindruckendste und anregendste Kennzeichnung des „Staatssozialismus sowjetischen Typs“ in den ökonomisch- philosophischen Manuskripten aus dem Jahr 1844, in denen Marx jedem „rohen Kommunismus“ aufgrund der „Notdurft“ seiner unreifen Verhältnisse einen „radikalen Egalitarismus“ voraussagte, der alles vernichten werde, was nicht von allen als Privateigentum besessen werden kann, der „auf gewaltsame Weise“ alle gleich mache und allein den unmittelbaren Besitz als Zweck des Lebens anerkenne.[38]

Nun glaube ich nicht, dass man der DDR einen „radikalem Egalitarismus“ nachsagen kann, sicher aber eine am alten Gleichheitspostulat der Arbeiterbewegung orientierte, Wachstum wie Innovation hemmende, substanzzehrende Wirtschafts- und Sozialpolitik, die nicht unwesentlich zu ihrem Scheitern beitrug. Weiter führt eventuell das Marxsche Diktum vom „Streit um das Notwendige“, der allerdings auch als Ursache wie Folge der häufig „Gleichmacherei“ genannten Tendenz zum Egalitären verstanden werden kann, eines Trends, den Manfred Lötzsch einmal – ich habe nicht mehr gefunden, wo – als „Nivellierung nach unten“ beschrieb, in der er eine der Ursachen für die Innovationsträgheit der DDR sah. Doch entscheiden mögen dieses Theorieproblem die Marxologen.

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Ich will zum Schluss skizzieren, wie sich mir die Entwicklung seit dem Ende der strukturumwälzenden vierziger und fünfziger Jahren darstellte.
Seither wurde die DDR zu

- einer tendenziell egalitären, dennoch durch ungleiche Einkommens-, Status- und Partizipations-Chancen gekennzeichneten, also deutlich geschichteten modernen Industriegesellschaft auf der Basis staatlichen Eigentums an den wesentlichen Produktionsmitteln,

- organisiert in einem für die Systemauseinandersetzung ausgelegten und als Teil des Sowjetblocks nur bedingt souveränen Staat von ungewisser nationaler Identität und draußen wie drinnen bezweifelter Legitimation, der seine Legitimität aus dem Sozialismus-Verständnis des ML herleitete, durch eine paternalistisch gewährte Wohlfahrt ausweisen wollte, dieses aber (auch aufgrund der systembedingten Leistungsschwäche der Planwirtschaft) auf Dauer nicht konnte,

- kontrolliert von einer weder förmlich mandatierten noch gesellschaftlich kontrollierten Parteibürokratie, die sich mit einer „historischen Mission“ ausgestattet und berechtigt wähnte, zentralistisch über nahezu alle materiellen Ressourcen zu verfügen, sich jedoch angesichts ihres niemals durch demokratische Verfahren bestätigten Führungsanspruchs stets zu präventiver Repression veranlasst sah,

- zusammengehalten und mobilisiert von Institutionen und durch Verfahren, die nicht für den Austausch zwischen Regierenden und Regierten konzipiert waren, sondern für das Steuern, das Kontrollieren sowie - und das nicht zuletzt – das Belehren der Gesellschaft, und deshalb nicht in der Lage waren, dem Wandel in und außerhalb der Gesellschaft zu entsprechen und ihn systemerhaltend zu verarbeiten,

- von einem politischen System also, in dessen Zentrum die stets wissende, im Zweifel: stets besser wissende Partei stand, die - explizit erziehungsdiktatorisch - möglichst allen Bürgern ihr per definitionem fortgeschrittenes Bewusstsein zu vermitteln trachtete, als Partei dieses neuen Typus jedoch beim Dazulernen enorme, strukturbedingte Schwierigkeiten hatte und deshalb am vermeintlich Bewährten festhielt.

Was daraus folgte, mögen modernisierungstheoretisch versierte Mitglieder der alten Führung im Rückblick den Prozess einer unfreiwilligen Anpassung genannt haben. Vielleicht aber zitierten anders Belesene (eventuell sogar selbstkritisch) auch aus einem Text, der aus der Frühzeit des modernisierungstheoretischen Denkens stammt. Er steht in Marx’ „Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Vorwort“, und geht so:

„Auf eine gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um.“[39]


Anmerkungen

[1] Rainer Eppelmann, Bernd Faulenbach, Ulrich Mählert (Hrsg. im Auftrag der Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur), Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung, Paderborn, München, Wien, Zürich, 2003; Arnd Bauerkämper, Die Sozialgeschichte der DDR, München 2005; Günther Heydemann, Die Innenpolitik der DDR, München 2003.
[2] Vgl. Sigrid Meuschel, Ăśberlegungen zu einer Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte der DDR, in Geschichte und Gesellschaft, 19. Jg.(1996), Heft 1, S. 5ff.
[3] Frank Ettrich, Die andere Moderne. Soziologische Nachrufe auf den Staatssozialismus, Berlin o. J. (2005), S. 212.
[4] Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989, Berlin 1998, S.125. Vgl. zum Forschungsstand auch: Dietrich Staritz, Forschungen zur DDR-Geschichte seit 1990, in: Kulturation, 1/2006.
[5] Talcott Parsons, Communism and the West, in: Amitai and Eva Etzioni (Hrsg.), Social Change. Sources, Patterns und Consequences, New York 1964, S. 390.
[6] zit. nach der bei Piper (MĂĽnchen) 1968 erschienenen Ausgabe (S. 453).
[7] Jeffrey Herf, Reactionary Modernism. Technology, Culture and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge 1990.
[8] Abschied von der sozialistischen Ständegesellschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 16-17 v. 13.4.1990, S.3ff.
[9] Detlef Pollack, Auf dem Wege zu einer Theorie des Staatssozialismus, in: Historical Social Research, vol. 28, 2003, Nr.1/2, S.10ff., hier S. 23.
[10] JĂĽrgen Habermas, Die nachholende Revolution, Frankfurt am Main 1990.
[11] Vgl. auch Dietrich Mühlberg, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der DDR, in: Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka, Hartmut Zwahr, Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart, 1994, S. 62.ff, hier: S. 66 f.; s. a. auch: Johannes Berger, Was bedeutet die Modernisierungstheorie wirklich – und was wird ihr bloß unterstellt?, in: Leviathan, 24. Jg.(1996), Heft 1, S.45ff.
[12] Wolfgang Zapf, Modernisierung und Modernisierungstheorien, in: ders. (Hrsg.), Die Modernisierung moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 25. Deutschen Soziologentages in Frankfurt am Main 1990, Frankfurt a.M./New York 1990, S. 23 ff.
[13] s. Anm. 8.
[14] Neotraditionalism, in: Ders, New World Disorder, Berkeley etc. 1992, S. 121ff.
[15] Schon 1990 schrieb Irene Dölling von einer „spezifischen Verquickung von Staatssozialismus und Patriarchat“. Im „Staatssozialismus“ allerdings sah auch sie eine Spielart der modernen Gesellschaft, die durch „die Dominanz des politischen, bürokratisch-zentralistischen Systems gegenüber allen anderen Teilsystemen charakterisiert“ war und in der der Partei in Gestalt ihres Generalsekretärs, so wie dem „pater familias“ der „vorbürgerlichen Produktionsfamilie“ die „Verantwortung für das Wohlergehen aller“ zugeschrieben wurde. Vgl. dies., Über den Patriarchalismus staatssozialistischer Gesellschaften und die Geschlechterfrage im gesellschaftlichen Umbruch, in: Wolfgang Zapf (Hrsg.), Die Modernisierung [Anm. 12], S. 407ff., hier: S.408.
[16] Vgl. Tony Cliff, Staatskapitalismus in Russland, Frankfurt am Main 1975.
[17] FĂĽr die maoistische Kritik am Weg der DDR vgl. Uwe Wagner, Vom Kollektiv zur Konkurrenz. Partei und Massenbewegung in der DDR, Berlin 1974 sowie Philipp Neumann, ZurĂĽck zum Profit. Zur Entwicklung des Revisionismus in der DDR, Berlin 1973.
[18] Jede Aufzählung von Titeln oder Textpassagen, in denen das geschieht, wäre unvollständig. Derart gekoppelt wird von beinahe allen.
[19] Der Untertitel seines Buches „Die Zivilisatorische Lücke“, Frankfurt a. M. 1992.
[20] Untertitel seines Buches „Das Ende eines Jahrhundertmythos“, Köln 1996.
[21] Ossip K. Flechtheim, Einleitung zu Arthur Rosenberg, Geschichte des Bolschewismus, Frankfurt a. M. 1966, S. 13.
[22] FĂĽr Vieles: Sigrid Meuschel, Revolution in der DDR. Versuch einer sozialwissenschaftlichen Interpretation, in: Wolfgang Zapf (Hrsg.) , Die Modernisierung (Anm.12). S. 558ff.
[23] Die Belege für dieses Zitat und die drei folgenden stehen in: Dietrich Staritz, „ ...wie die Luft zum Leben.“ Tendenzen des Wandels im politischen System der DDR, in: Gert-Joachim Glaeßner (Hrsg.), Die DDR in der Ära Honecker. Politik – Kultur – Gesellschaft, Opladen 1988, S. 297ff.
[24] Talcott Parsons, Evolutionäre Universalien der Gesellschaft, in. Wolfgang Zapf (Hrsg.), Theorien des sozialen Wandels, Köln / Berlin, 2.Aufl.1970, S.71. Dieser Text erschien erstmals in der American Sociological Review , Jg. 29 (1964), S. 339ff.
[25] Für Vieles: Friedrich Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, zit. nach: Marx/Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd. II, 8. Aufl., Berlin, 1958, S. 139.
[26] Vgl. Rudolf Bahro, Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus, Frankfurt a. M., 1977.
[27] Vgl. Ernest Mandel, Diskussionsbeitrag auf dem (West-)Berliner Bahro-Kongress im November 1978, in: Der Bahro-KongreĂź, Aufzeichnungen, Berichte und Referate, Berlin 1978, S.30f.
[28] Fritz Behrens, Zum Problem der Ausnutzung ökonomischer Gesetze in der Übergangsperiode, in: Wirtschaftswissenschaft, 5.Jg. (1957) Sonderheft 3, S.105ff. in dem auch ein Aufsatz von Arne Benary veröffentlicht wurde, der in die selbe Richtung zielte. Eingerahmt wurden diese Texte von Beiträgen, deren Autoren den bereits zuvor von Ulbricht geäußerte Revisionismus-Verdacht zu belegen trachteten.
[29] Uwe-Jens Heuer, Demokratie und Recht im Neuen Ă–konomischen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft, Berlin 1965, S.174.
[30] Ebda, S. Stichwort „Sozialistischer Staat“, S.909 ff.
[31] Karl Marx, Friedrich Engels, Die Deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten, 3. Aufl. Berlin 1957, S. 31 f.
[32] Zit nach: Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, 10. Aufl., Berlin 1954, S. XVI.
[33] Karl A. Wittfogel, Die Theorie der orientalischen Gesellschaft, in: Zeitschrift fĂĽr Sozialforschung VII. Jg. (1938),S. 90 ff.
[34] Rudi Dutschke, Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen. Über den halbasiatischen und den westeuropäischen Weg zum Sozialismus. Lenin, Lukács und die Dritte Internationale, Berlin 1974.
[35] Die Alternative [Anm.26].
[36] Die Pleite des rohen Kommunismus. Die soziale Frage, in: Sonntag Nr.11/ 1990 v.18. März 1990.
[37] Ettrich , [Anm. 3], S.201f.
[38] Ettrich zitiert Marx nach: MEW, Ergänzungsband 1, Berlin 1977, S. 467-588.
[39] MEW, Bd.13, Berlin 1961, S. 9.