KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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RezensionKulturation 2/2008
über Jörg Baberowski:
Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus
Raj Kollmorgen
Ein „sozialtechnologisches“ Projekt der Moderne
Jörg Baberowski: Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus
Fischer Taschenbuch Verlag 2007, 288 Seiten (ISBN 978-3-596-17791-2)


Jörg Baberowski, Professor für osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, hat mit diesem Buch (zuerst 2003 bei der Deutschen Verlags-Anstalt erschienen) eine profunde historische Studie zu einem der wichtigsten Kapitel der sowjetischen Geschichte vorgelegt.

Er stellt bereits zu Beginn klar, dass „Stalinismus und Terror Synonyme (sind). Der Kern stalinistischer Herrschaft bestand in der unablässigen Ausübung exzessiver Gewalt“ (S. 7). Diese richtete sich – wie Baberowski im Folgenden detailreich ausführt – nicht nur gegen höchst variabel definierte „Klassenfeinde“, sondern gegen jede Form von Abweichung, Renitenz oder Entzug gegenüber dem bolschewistischen Projekt. In den Zeiten des „Massenterrors“ verlor die „Zerstörungswut“ jedes rationale Maß. Allein in den Jahren 1937/38 wurden mehr als anderthalb Millionen Menschen verhaftet und über 700.000 Personen in Terrorkampagnen erschossen (S. 200). Die sich selbst entgrenzende Gewaltdynamik wandte sich schließlich auch gegen die Trägergruppen kommunistischer Herrschaft und schloss die Terrorisierung von Partei, Verwaltungsapparat, Armee und von in Ungnade gefallenen Führungskräften des Geheimdienstes (NKVDi) [1] ein (S. 156-203).

Stalin erscheint dabei als personales Zentrum der spiralförmigen Destruktionsorgien. Ohne ihn, so betont Baberowski, hätte es den Stalinismus als System nicht geben können (S. 8, 16, 257). Nicht nur der Beginn um 1928 und das abrupte Ende mit dem Tod des Diktators am 5. März 1953 plausibilisieren dies. [2] Entscheidend ist die herrschaftssoziologische Bestimmung der „Sowjetunion der Stalin-Zeit“ als (feudaler) „Personenverbandsstaat“, der „von einem Despoten und seinen Vasallen“ regiert wurde (S. 15, 86, 160).

Ebenso wichtig für eine angemessene Erklärung des Terrorregimes ist freilich, dass sich Kommunismus und Stalinismus einfügen in das „sozialtechnologische“ Projekt der Moderne, das gesellschaftlichen Fortschritt und Massenglück gegen allen Widerstand gleichsam aus dem Boden zu stampfen und dabei jede Form von „Ambivalenz“ (Z. Bauman) auszurotten trachtete (S. 14f). Im Unterschied zum Westen musste dieses Modernisierungsvorhaben jedoch scheitern, in „Massenterror“ und Selbstzerstörung der kommunistischen Elite enden, weil in Russland Anfang des 20. Jahrhunderts weder die historischen Voraussetzungen für einen Erfolg gegeben waren noch Leninismus und Stalinismus ein demokratisches und sozial inklusives Projekt der Moderne verfolgten. Vielmehr basierte die kommunistische Modernisierungsdiktatur einerseits auf einem – erst im Kontext der „proletarischen Weltrevolution“, dann durch die Idee des „Sozialismus in einem Land“ legitimierten – eliminatorischen Klassenkampfkonzept, andererseits auf traditionalen, „feudalen“ bzw. „mafiotischen“ Rekrutierungs-, Bindungs- und Loyalitätsstrukturen. Diese zeichneten sich durch Freund-Feind-Schematismen, Militarisierung des Sozialen, Männlichkeitswahn und Gewaltverherrlichung aus. Beides zusammen mündete nicht nur in einer Gewalt der Sprache, die den „Feind“ als Seuche, Ungeziefer oder Abfall brandmarkte, sondern führte zur Herrschaft einer Sprache totalitärer Gewalt: „Dem Terror ging die Entmenschlichung der Opfer voraus. Darin ähnelte der Stalinismus dem Nationalsozialismus“ (S. 121, insgesamt: 94-134, 204f).

In der wissenschaftlichen Deutung des Stalinismus versteht Baberowski seine Studie als expliziten Versuch, Scylla und Charybdis der bisherigen Stalinismusdebatte, d.h. Totalitarismustheorie und Revisionismus zu umschiffen. Während die erstgenannte Schule den Herrschaftsanspruch der totalitären Durchdringung der Gesellschaft für bare Münze nimmt, womit die Grenzen und mannigfaltigen Widerstände in der Gesellschaft übersehen werden, bezweifelt der Revisionismus nicht nur die überragende Stellung Stalins und entsystematisiert den Terror. Er glaubt darüber hinaus einen „Stalinismus von unten“ erkennen zu können oder lehnt die Idee einer „totalen Herrschaft“ gänzlich ab (S. 8-10). Beide Konzeptionen hält Baberowski für einseitig und inhaltlich unzureichend. Er favorisiert in einer Art theoretischen Synthese von Hannah Arendt, Martin Malia, Zygmunt Bauman und Michel Foucault eine Erklärungsfolie, die Anspruch und Realität, Struktur und Kultur, Modernisierungsprojektion und traditionale Gehalte sowie die Herrschafts- und Lebensweltperspektive zusammenzudenken versucht (ibid.). Tatsächlich ist es dem Autor in den historiographischen und zugleich herrschaftssystematisch angelegten Kapiteln des Buches gelungen, Herrschaftsstruktur und Terrortechniken mit ihren soziokulturellen Einbettungen sowie die Perspektive auf den Stalinismus „von oben“ mit jener „von unten“ zu kombinieren. Das ist eine der großen Stärken der Studie.

Darüber hinaus ist Baberowski Anerkennung zu zollen für seine Darstellungsform. Systematische und narrative Elemente greifen ineinander; die sprachliche Stil ist flüssig, zuweilen sogar packend. Das Buch, das keine historiographische Spezialstudie darstellt, sondern mit der Absicht einer Breitenwirkung über den Zirkel der Osteuropaforscher hinaus verfasst wurde, integriert historisch-empirische Analysen, Periodisierungen und Überblicksdarstellungen von Terrorelementen, „Zielgruppen“ und Kampagnen mit Berichten von Tätern und Opfern.

Kritisch sind gegenĂĽber der Studie vier Punkte vorzubringen:

(1) Zwar teile ich ausdrücklich die These Baberowskis, dass der Stalinismus als Modernisierungs- und Zivilisationsprojekt (auch) in soziokultureller Hinsicht weitgehend scheiterte. Daraus kann aber nicht der Schluss gezogen werden, dass „die hegemoniale Kultur keinen Weg in das Bewusstsein der Untertanen (fand)“ (S. 14). Abgesehen davon, dass es begrifflich kaum sinnvoll ist, von einer unwirksamen hegemonialen Kultur zu sprechen: sie kann nur dann als hegemonial bezeichnet werden, soweit sie – wie auch immer – tatsächlich angeeignet und gelebt wurde. Derhomo sovieticus war nicht nur ideologischer Wahn, sondern schrieb sich – wie Baberowski selbst an einer Fülle von Momenten plausibilisiert (Gewaltkultur, Körperästhetik, Feiertage, Kommunalkas, Gestaltung des öffentlichen Raumes u. a.) – in die Alltagswelten ein, amalgamierte sich mit den tradierten multiethnischen und dominant bäuerlichen Kulturen des Zarenreiches. In welchen konkreten Momenten und inwieweit die „sowjetische Kultur“ darin im Vollsinne: „eingewurzelt“ wurde, hing von vielen Faktoren und Kontexten ab. Mit Sicherheit – was auch Baberowski hervorhebt – wurden die ruralen Peripherien des europäischen Teils weniger ergriffen als die Metropolen, während in den transkaukasischen und asiatischen Republiken bis zum Ende des Stalinismus nur von (höchst) selektiven kulturellen Transformationen gesprochen werden kann. Es ist aber auszuschließen, dass die staatlich verordnete „sowjetische Kultur“ „keinen Weg“ in die soziale Praxis fand. Das widerspricht dem Anspruch und der Realität des bolschewistischen Revolutions- und Herrschaftsprojektes. Noch die postsowjetischen Gesellschaften stellen dies eindrücklich unter Beweis.

(2) Dass der Stalinismus eine paradigmatische Form totalitärer Herrschaft darstellt, steht heute – nach der Öffnung der Archive und Studien, wie sie Baberowski selbst betrieben hat – außer Zweifel. Demgegenüber ist der These: „Die russische Revolution war die Geburtsstunde des totalitären Zeitalters, sie war die Erbsünde, aus der sich die modernen Diktaturen und Ideologien hervorbrachten“ (S. 39) grundsätzlich zu widersprechen. Von „Erbsünden“ zu reden, ist bereits an und für sich problematisch. In jedem Fall ist es aber – nach allem, was wir von den alternativen Totalitarismen, ihren Vordenkern und Vorbildern wissen – schlicht unzutreffend, diese als durch die russische Revolution „hervorgebracht“ zu interpretieren. Einerseits gab es auch noch in der russischen Revolution Alternativen der weiteren Entwicklung, nicht-totalitäre eingeschlossen. Andererseits speisten sich weder der „völkische Antisemitismus“ und Rassismus Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts noch der deutsche „Nationalsozialismus“ aus der „russischen Revolution“. Es bleibt, nicht zuletzt angesichts des Bezugs auf Arendt, Bauman und Foucault, unbegreiflich, wie Baberowski allen Ernstes die russische Revolution von 1917 als den Generator der – keineswegs auf den „Osten“ beschränkten – totalitären Moderne mit ihren vielfältigen Unterordnungs-, Disziplinierungs-, Auslese-, Mobilisierungs- und Erziehungsmechanismen ansehen kann.

(3) In diesen Kontext gehört auch die Kritik an vereinzelten Dämonisierungstendenzen in Baberowskis Darstellung und Bewertung kommunistischer oder stalinistischer „Täter“. So spricht Baberowski zum Beispiel von Lenin als „bösartigem Schreibtischtäter, der menschliche Tragödien, Leid und Elend ignorierte“ (S. 42). An anderer Stelle wird ein elfjähriger Bauernjunge, Pavlik Morozov, der seinen Vater beim NKVD „anschwärzte“, dafür vom Dorfmob gelyncht und von der stalinistischen Propaganda zum Märtyrer verklärt wurde, als „Denunziant“ stigmatisiert (S. 118). Zwar glaube ich nicht weniger als Baberowski, dass es im Umgang mit den Verbrechen des Leninismus und Stalinismus keine Wertneutralität geben kann. Aber eine tendenziell eindimensionale, spekulativ deutende und menschlich ausgrenzende Sprache, wie sie an einigen Stellen des Buches aufscheint, verstellt sowohl die Möglichkeit einer rationalen Erklärung wie die Akzeptanz des Menschlichen im Tun auch der sadistischen Täter. Lenin war nicht einfach und umfassend „böse“; und ein Elfjähriger kann streng genommen kein Denunziant sein, schon weil sich diese Kategorie für ein Kind sachlich verbietet. Letztlich befördern derartige Stigmatisierungen die anti-totalitäre Auseinandersetzung nicht, sondern hemmen sie, weil sie das Geschehen von uns entfernen. Die Debatten der letzten beiden Jahrzehnte sowohl um den Nationalsozialismus, um den RAF-Terrorismus und den Staatssozialismus in der DDR haben das für mich nachdrücklich klargestellt.

(4) Abschließend zu drei Leerstellen der Studie: Vermisst habe ich zum einen eine Diskussion des „Personenkults“ als wichtiges ideologisches Moment stalinistischer Herrschaft. In Baberowskis Studie kommt er nur am Rande vor (etwa S. 83). Zum anderen bleibt der Stalinismus jenseits der Sowjetunion gänzlich unerwähnt. Auch wenn sich das Buch explizit mit einem Teil der sowjetischen Geschichte befasst: der Stalinismus als eine besondere Herrschaftsform innerhalb des staatsozialistischen Typus war bekanntlich nicht auf die Sowjetunion beschränkt, sondern fand sich teils imitiert, teils selbsterzeugt auch in anderen mittelost- und osteuropäischen Gesellschaften. Mindestens einen Hinweis darauf und die damit verbundenen Erklärungsprobleme hätte ich mir doch gewünscht. Endlich ist die Behandlung des Endes des Stalinismus und seiner sowjetischen „Aufarbeitung“ mit anderthalb Seiten sehr kurz, wie ich finde, zu kurz geraten.

Insgesamt besticht Baberowskis Studie trotz der vorgetragenen Kritikpunkte durch ihre Argumentationsstruktur, die in ein komplexes theoretisches Gerüst jenseits eindimensionaler Modelle eingebettet ist, durch die umfassende und dabei prägnante Abhandlung des Themas auf der Höhe der aktuellen Forschungsstandes, schließlich und nicht zuletzt: durch die klare Sprache und einen sicheren Stil, der die Balance zwischen analytischer Nüchternheit und wertendem Engagement bis auf wenige Ausnahmen bewahrt. Ein wichtiges Buch, das nicht nur Sozial- und Kulturwissenschaftlern nachdrücklich empfohlen werden kann, sondern auch interessierten Laien. Ein Buch, das uns erneut zeigt, wie sozialtechnologisch menschenverachtend und terroristisch der historische Stalinismus war, der sich aus keiner humanistischen Perspektive legitimieren ließ und lässt.


Anmerkungen

[1] Baberowski benutzt durchgängig die wissenschaftliche Transliteration und nicht die im Deutschen oft weiterhin übliche Transkription: NKWD.

[2] Interessanterweise findet sich in der Studie zwar jene genaue Datierung des Endes des Stalinismus (S. 257/258), hingegen keine klare Fixierung des Beginns. Einerseits gibt es Andeutungen, dass bereits mit der Revolution 1917 das Terrorregime systematisch etabliert wurde (S. 28ff, vgl. S. 16). Andererseits werden der Beginn der „Ausmerzung“ der innerparteilichen Kritiker (ab 1926), die „Kulturrevolution“ mit ihrer Welle der Gewalt“ gegen Kirchen und alle „sozial fremden Elemente“ ab 1928 (S. 113/114), die Schauprozesse (ab Juli 1928) oder die „Zwangskollektivierung der Landwirtschaft“ (ab 1929, S. 122) als Startpunkte thematisiert. Vielleicht ist diese vermeintliche Schwäche aber eine Stärke. Es handelte sich um einen schleichenden Prozess, der bereits 1917 einsetzte (vgl. S. 28ff), aber erst in den Jahren 1927-1929 seine materielle, symbolische und personale Konturierung erfuhr. Allerdings diskutiert Baberowski dieses Problem nicht explizit.