KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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RezensionKulturation 1/2006
über Elka Tschernokoshewa und Marija Juri-Pahor (Hg.):
Auf der Suche nach hybriden Lebensgeschichten. Theorie - Feldforschung - Praxis
Volker Gransow
Hybridkultur in Theorie und Feldforschung
Münster/ New York/ München/ Berlin: Waxmann. 2005. Paperback, 296 Seiten. 3 Abbildungen. € 34,90. (= Schriftenreihe “Hybride Welten” Bd.3)



Der Begriff der Hybridität wird in Industrie und Landwirtschaft völlig selbstverständlich benutzt. Ganz so ist es in Kultur und Kulturwissenschaften noch nicht, obwohl damit eine vernünftige Alternative etwa zum “Multikulturalismus” bezeichnet wird. Gerade deshalb ist die Schriftenreihe “Hybride Welten” wie auch der vorliegende Band ein wichtiger Diskussionsbeitrag.

Das Buch wird herausgegeben von der Kultursoziologin Elka Tschernokoshewa (Sofia/Bautzen) und von Marija Juri-Pahor (Triest/Ljubljana). Es geht um theoretische Zugänge, empirische Forschung speziell zur sorbischen Minderheit in Deutschland sowie um Exempel aus Beratung und Lehre, Komparatistik und Museumsarbeit.

Elka Tschernokoshewa beginnt mit Begriffen und Erfahrungswegen zu Geschichten vom hybriden Leben. Sie versteht Hybridisierung oder Hybridität im Hegelschen Sinn dialektisch als Zusammenführung verschiedener durch Epoche oder Differenzierung geschiedener kultureller Phänomene. Erstes Spezifikum sind Differenzen nach sozialen Kategorien oder sozialen Systemen wie Ethnos, Geschlecht, Alter, Beruf, Besitz etc. Dies wird entfaltet in Bezug auf die “postcolonial studies” etwa bei Stuart Hall oder Edward Said, aber auch im Rückgriff auf Bachtin. Zweites Spezifikum ist die Fokussierung auf Beziehungen, zentral die Frage nach der Verteilung und der Asymmetrie von Macht. Drittens geht es um Prozesse und deren Bedingungen. Wem das zu abstrakt klingt, dem wird klargemacht, dass der praktische Hintergrund auch darin besteht, dass es der Bundesrepublik schwer fällt, sich als Einwanderungsland oder eben als Hybridkultur zu begreifen.

Heidenreich, Heimat Berlin

Abb. aus "Auf der Suche ..." nach Heimat Berlin? von Dieter Heidenreich (2002)

Ebenfalls völlig praktisch motiviert ist der zweite einleitende Beitrag. Marija Juri-Pahor fragt hier nach dem Erleben von Menschen, die einer Geschichte von Gewalt ausgesetzt waren oder sind. Sie kommt sehr ausführlich begründet zu der These, dass solch Erleben mit Vorstellungen von “Geburt als Tod” bzw. “Tod als Geburt” einhergehen kann.

Dem folgt die Publikation der Ergebnisse eines Bremer Lehrforschungsprojekts. Bremer Studierende untersuchten Hybridisierungsprozesse im Umfeld der sorbischen Minderheit in Deutschland. Traditionelle Muster wie neue Beziehungsstrukturen werden mit viel Liebe zum Detail ausgebreitet gleich ob es um Schule, Kirche, Disco oder Partnerschaft geht. Ein deutlicher Unterschied zwischen dem hybriden Alltagsleben in der Lausitz und der offiziellen Traditionspflege, Folklorisierung und Sprachpflege wird festgehalten.

Abgerundet wird der Sammelband mit Beiträgen zur angewandten Forschung. Ursula Riedel-Pfäfflin (Dresden) und Archie Smith jr. (Berkeley) fragen hier, was mit traditionellen Glaubensauffassungen, Wissenszugängen und Bedeutungszuschreibungen geschieht, wenn Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaften, Kulturen und Identitäten aufeinander treffen. Dagmar Neuland-Kitzerow (Berlin) beschreibt das europäische Ausstellungsprojekt “Migration, Work, Identity”, das zwischen 2002 und 2004 von verschiedenen europäischen Museen realisiert wurde.

Hybridität ist nicht nur Gegenstand der Analyse. Sie ist selbst Gestaltungsprinzip. Das zeigt sich am Abdruck einer Zeichnung und von weiteren Fotos und Fotocollagen sowie auch an “gebindestricht in einer hybriden welt” von Steven Totosy. Der Autor gibt ein Stück seiner eigenen Geschichte wieder: ein Eurokanadier, in Ungarn geboren, der in Boston und Halle lebt, das Gymnasium in Deutschland begonnen, in Österreich fortgesetzt und in der Schweiz beendet hat. Der beeindruckende Text will gleichzeitig Kulturkomparatistik, Literatur und autobiografischer Report sein. Er zeigt damit auch die Tücke der Hybridität: eine gewisse Beliebigkeit, der nur durch deutliche Differenzierung entgangen werden kann.

Fazit: das Buch sei allen an Hybridkultur interessierten Leserinnen und Lesern nachdrĂĽcklich empfohlen.

 Montage Boytchev, Herbrig, Sauer

Aus "Auf der Suche ...: Montage Im Umfeld der sorbischen Minderheit in Deutschland (Hristio Boytchev, Bautzen, Stephan Herbrig, Calgary und Claudia Sauer, Berlin)