KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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RezensionKulturation 2021
über Bruno S. Frey:
Venedig ist überall. Vom Übertourismus zum Neuen Original
Gerlinde Irmscher
Von Originalen und Kopien
Venedig ist überall. Vom Übertourismus zum Neuen Original, Springer Nature, Wiesbaden 2020, 115 S.

Das hier zu besprechende Büchlein wird als „Sachbuch“ angeboten. Sein Autor, ein Schweizer Wirtschaftswissenschaftler mit guten Beziehungen nach England und Süddeutschland, ist bisher kaum als Tourismusforscher aufgetreten, wohl aber mit Überlegungen zum Verhältnis von Kunst und Ökonomie. Seine Motivation, sich mit dem sogenannten „Übertourismus“ zu beschäftigen und einen „radikalen Vorschlag“ zur Lösung damit einher gehender Probleme zu unterbreiten, erschließt sich vermutlich schon mit den ersten Sätzen des Vorworts: In der weit zurück liegenden Kindheit wurde der Autor von seinen Eltern während eines Paris-Trips zum Betrachten der Mona Lisa angeregt, was sich für ihn heutzutage als schwieriges Unterfangen erwiesen hat. Massen potenzieller Besucher, die (scheinbar) nur Interesse an einem Selfie mit dem Bild im Hintergrund haben, verlängern die Wartezeit vor dem Louvre in unerträglicher Weise. Der Touristenstrom und das Aufsichtspersonal machen es dann unmöglich, vor dem Gemälde zu verweilen, zumal man es aus der gebotenen Entfernung gar nicht mehr richtig sehen kann. Auch andernorts, etwa in der Sixtinischen Kapelle, wird der beflissene Bildungsbürger daran gehindert, sich in die Kunstwerke zu vertiefen.

Selbstverständlich kann heutzutage aus sozialer und schon gar nicht aus ökonomischer Sicht daran gedacht werden, „Massen“touristen den Zugang etwa zum europäischen Kulturerbe zu verweigern oder zu erschweren. Da alle Bestrebungen der Touristiker zur Entzerrung aber bisher nichts gebracht hätten, schlägt der Autor vor, solche Stätten mit Hilfe modernster Technik an anderer Stelle neu zu errichten. „Ein Neues Original bietet in vielfacher Hinsicht sogar mehr als das Original. Mit der Neuschöpfung wird zusätzlich eine engere Beziehung zur Geschichte und Kultur des Ortes geschaffen. Damit wird der Druck auf die ‚Originale‘ vermindert und dadurch den wahren Kunstliebhabern deren Besuch angenehmer gestaltet.“ Dieser im Buch mehrfach wiederholte Gedanke leidet an einer grundlegenden Inkonsistenz. Einerseits werden die den „Übertourismus“ hervorrufenden Reisenden als wenig geschichts- und kunstinteressiert dargestellt, andererseits wird den „Neuen Originalen“ als deren Surplus gerade die Möglichkeit zugeschrieben, die Besucher in Geschichte und Kultur des Ortes „eintauchen“ zu lassen - alles andere wäre ja nur schnöde Unterhaltung. Das setzt jedoch Bildungswillen und Zeitaufwand voraus. Müssen die „Neuen Originale“ also letztlich nur als argumentative Krücke für die eigentliche Forderung dienen: Überlasst die Originale wieder den Kennern, sonst macht denen das Reisen keinen Spaß mehr? Überblickt man die vergangenen zweihundert Jahre, so war dies das Fazit manches Reisefreudigen, der am Ende mit Ärger auf seine Zeitgenossen blickte.

Das Problem wird einleitend mit den Begriffen „überbordender Kulturtourismus“, „kultureller Massentourismus“ oder „kultureller Übertourismus“ gefasst, wobei der Begriff des „Übertourismus“ als Steigerung von „Massentourismus“ gelten kann: noch mehr Reisende, noch mehr Umweltschäden, noch mehr Probleme für die Wohnbevölkerung der besuchten Städte. Doch wird nicht nur auf neue Quantitäten hingewiesen. Die „problematischen“ Reisenden stammen jetzt aus China, haben wenig Zeit und kaum Verständnis für das, was ihnen gezeigt wird. Es gehe nur noch um den richtigen Standort für das Selfie (so sieht es das zustimmend zitierte Feuilleton) und mit AirBnB habe die massenhafte Abwanderung von Einheimischen aus den begehrten Wohnquartieren der Altstädte eingesetzt. Soweit die Schilderung der Lage in den ersten beiden Kapiteln. Nun, in den Ohren von Kennern der Materie klingt manches nicht ganz neu. Informationen über beste Standorte für Skizzen und Bilder wurden unter den Malern schon um 1820 geteilt. Die Aufenthaltsdauer an den Urlaubszielen hat während des ganzen 20. Jahrhunderts massiv abgenommen, wobei zunächst die US-Amerikaner (Europa in einer Woche) und dann die Japaner ins Fadenkreuz der Kritik gerieten. Letztere firmierten als verständnislose Horden, denen es nur ums Foto (damals noch analog) zu tun war. Auch der Umstand, dass Touristen nur noch auf Touristen treffen, wird von Kritikern (nicht von den Reisenden) seit längerem beklagt. Das scheint im Widerspruch zu deren Wunsch nach einer „authentischen Atmosphäre“ zu stehen. Die besteht ja aber vielleicht nur in dem Wunsch, in Paris wie alle anderen Urlauber auch ein angesagtes Straßencafé zu besuchen.

Noch ein Wort zum Terminus Übertourismus. Nach Frey habe er sich seit 2017 eingebürgert. Es sei aber letztlich unmöglich, genau zu definieren, wann sein Gebrauch angebracht ist. Welchen Gewinn bringt er also, außer durch seinen Alarmismus die Aufmerksamkeitsschraube noch eine Runde weiter zu drehen? Dem Autor eröffnet er jedenfalls die Möglichkeit, seinem Vorschlag eine Aura des Neuen und Überraschenden zu verleihen. Wenn das Angebot an touristischen Möglichkeiten hinter der rasant steigenden Nachfrage zurückbleibt, dann hilft aus der Perspektive des Wirtschaftswissenschaftlers nur eine Steigerung des Angebots. Wie die Neuen Originale aussehen könnten, wird dann anhand bereits bestehender, sehr spezieller Angebote erläutert, die mit virtual reality arbeiten. Allerdings bleiben zwei Dinge ungeklärt: der im dritten Kapitel erläuterte Nutzen - schließlich ist es, wie auch Frey eingesteht, völlig ungewiss, ob derlei Angebote von den Touristen in der gewünschten Weise aufgegriffen würden. Viel problematischer erscheinen allerdings die im sechsten Abschnitt unter der Überschrift „Wie können Neue Originale in die Wirklichkeit umgesetzt werden?“ unterbreiteten Vorschläge. Danach könnte das Neue Venedig keinesfalls „überall“ entstehen, wie der Titel des Buches verheißt. Wünschenswert wäre ein in der Nähe des „echten“ Venedig entstehendes Neues Original mit realer wie virtueller Ausstattung. Das damit verbundene hohe unternehmerische Risiko solle mit staatlicher Hilfe gesenkt werden.

Um seinen Vorschlägen Realitätsnähe zu verleihen, greift Frey auf historische und aktuelle Beispiele zurück. Imitationen touristischer Ziele gibt es, seit es Tourismus gibt. Sie waren zunächst dazu gedacht, einer Mehrheit, die vom Reisen ausgeschlossen blieb, wenigstens durch Beschreibungen und Bilder bis hin zu kinetischen Panoramen, die eine „echte“ Reise simulierten, eine Vorstellung der beliebten Destinationen zu vermitteln, die auf diese Weise aber auch erst inauguriert wurden. Zugleich wollte man zahlungskräftige Kunden auf den Geschmack bringen. Mehrfach bezieht sich der Autor auf aktuelle Nachbildungen europäischer Sehenswürdigkeiten in den USA oder China, die jedoch nur zu oberflächlichem Konsum anregten. Die bange Frage nach dem erwünschten Effekt der Neuen Originale muss jedoch, wie oben vermerkt, unbeantwortet bleiben. Werden die Chinesen, die sich, wie angenommen wird, nur einmal im Leben eine Reise nach Europa leisten können, mit einer noch so raffinierten Attrappe der Rialtobrücke zufrieden geben (können)? Das von Frey immer wieder vorgebrachte Argument, auch die Originale seien durch Rekonstruktionsmaßnahmen längst nicht mehr „echt“, ist schon bisher praktisch wirkungslos geblieben. Jüngst hat Spode begründet, worin die „Unentbehrlichkeit des Echten“ liegt. Authentizität sei auch für die Tourismusbranche „keine beliebig reproduzierbare Ware“. „Menschen geben sich auf Dauer nicht mit Simulationen zufrieden, auch wenn sie sich auf dieses vermeintlich postmoderne Spiel gerne einmal einlassen.“

Vielleicht würden aber gerade die „wahren“ Kunstliebhaber gern die virtuellen Möglichkeiten zur Belehrung und Erbauung nutzen. Dann könnte man in Ruhe eine gut ausgeleuchtete Mona Lisa betrachten und dies jederzeit und an jedem Ort.

Anmerkungen

1) Frey, Bruno S.: Arts & economics - Analysis & cultural policy (2. Aufl.), Berlin/Heidelberg 2003
2) S. IX
3) Vgl. dazu den Ärger des Hamburgers Otto Beneke über die vielen „Philisterfamilien“, die ihm in höherem Alter das Reisen vergällten. Prein, Philipp: Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert. Freizeit, Kommunikation und soziale Grenzen, Münster 2005, S. 171
4) So wies ein Freund William Turner auf jenen Standort hin, wo er die Bucht von Genua am besten überblicken und zeichnen könne. Vgl. Wilton, Andrew: William Turner. Reisebilder: die schönsten Aquarelle aus Deutschland, Frankreich, Italien und der Schweiz, 3. Aufl., München 1984, S. 18
5) S. 20
Hier bezieht sich Frey auf eine Untersuchung der IUHB Internationale Hochschule, die auf einer nicht repräsentativen Online-Befragung vom Frühjahr 2019 beruht. Immerhin kommen so auch mal Touristen zu Wort, die, so die Studienleiterin, sehr wohl um das Problem wüssten, was sie aber vor allem in jungen Jahren mehrheitlich nicht von einem Besuch abhalten würde. Die Popularität eines Ortes würde als „Must see“ interpretiert. Vgl.: https://www.iubh-university.de/wp-content/uploads/IUBH_Themenmappe-Overtourism_web.pdf , Zugriff am 3.1.2021
6) S. 43
7) S. 80
8) Vgl. Kuchenbuch, Thomas: Die Welt um 1900. Unterhaltungs- und Technikkultur, Stuttgart/Weimar 1992, S. 201 und Irmscher, Gerlinde: Die Touristin Wanda Frisch. Eine Reisebiografie im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2020, S. 212 ff.
9) Vgl. S. 58
10) Spode, Hasso: Wahre Kultur, authentische Attraktionen. Eine Philosophie des Echten, in: Giblak, Beata; Kunicki, Wojciech (Hg.): Kulturräume. Räume der Kultur: Poetiken des Raumes, Poetiken der Zeit, Frankf. a M. 2020, S. 39