KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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RezensionKulturation 2020
über Gerlinde Irmscher:
Die Touristin Wanda Frisch. Eine Reisebiografie im 20. Jahrhundert.
Isolde Dietrich
Wenn Tippfräuleins reisen... Tourismus als kulturelle Praxis
Die Touristin Wanda Frisch. Eine Reisebiografie im 20. Jahrhundert. transcript Verlag, Bielefeld 2020, 321 S.



Mitten in Zeiten des verordneten Zuhausebleibens erscheint ein neues Buch zum Reisen. Provokation, Anachronismus oder Signal der Zuversicht? Wohl kaum, denn Autorin und Verlag konnten nicht vorhersehen, in welcher Ausnahmesituation der Titel auf den Markt kommt.

Kein Zweifel – die Pandemie hat die reiselustigen Deutschen ins Mark getroffen. Da mag ein Reisebuch wie Hohn erscheinen. Der touristische Stillstand schärft aber die Aufmerksamkeit des Lesers. Er wird sich bei jeder der ausgebreiteten Thesen fragen, ob sie allgemeingültig ist oder nur im goldenen Zeitalter des bundesdeutschen Massentourismus zutreffend war.

Beachtung verdient die Studie auf jeden Fall und aus vielerlei Gründen. Es handelt sich um die Reisebiografie der (in diesem Band so genannten) Wanda Frisch (Jg. 1923) aus Essen, die sich als alleinstehende Frau ihr Leben lang im Urlaub die Welt ansah und damit gleichsam zu einer Pionierin des Massentourismus wurde. Sie konnte sich das leisten, weil sie als Sekretärin ihr eigenes Geld verdiente, einen Rechtsanspruch auf Urlaub hatte und frei von familiären Verpflichtungen war. Offenbar gehörte das Reisen als kulturelle Praxis so zu ihrem Selbstbild, zu ihrem Bedürfnis, sich selbst etwas Gutes zu tun, dass sie dem alles andere unterordnete. Ob sie damit auch ihr Umfeld beeindrucken wollte, muss offenbleiben. Zumindest ein Nebeneffekt wird das in jedem Fall gewesen sein. Denn Fernreisen mit dem Flugzeug oder mit dem Schiff waren in jener Zeit, als Wanda Frisch sie unternahm, noch absoluter Luxus und damit prestigeträchtige Aktionen. Es gehörten auch ausgeprägtes Selbstbewusstsein, Mut und Verwegenheit dazu, solch einen Schritt zu wagen und sich dabei sogar in „kommunistische“ Länder zu trauen. Gleiches gilt für ihre Winterreisen in bekannte Skigebiete. Selbst wenn ihr das dortige Milieu von klein auf vertraut war – sie hatte schon als Kind mit den Eltern in den Bergen auf Brettern gestanden – so war es doch eine Besonderheit, in der Saison noch als über 70jährige Stadtbewohnerin auf Skiern unterwegs zu sein.

Es soll und kann hier nicht das ganze Panorama der Reisebiografie von Wanda Frisch ausgebreitet werden. Vielmehr ist auf das verblüffende Vorgehen und auf die bemerkenswerte Leistung der Autorin Gerlinde Irmscher einzugehen. Sie hat den touristischen Werdegang ihrer Protagonistin aus einer einzigen – für sich genommen unscheinbaren – Quelle rekonstruiert. Nicht nur das, sie hat die Befunde in die Gesamtentwicklung des bundesdeutschen Tourismus im 20. Jahrhundert eingeordnet und dabei einen weiten historischen Bogen geschlagen, der den Tourismus in der Geschichte des Reisens verankert. Mit Wanda Frisch hat Irmscher einen bestimmten Prototyp des Homo touristicus des letzten Jahrhunderts skizziert, und zwar einen nichtakademischen, einen nicht gerade begüterten, einen unbemannten.

Materialgrundlage der Arbeit war ein Konvolut diverser Papiere, das sich im Historischen Archiv zum Tourismus (HAT) in Berlin befindet. Es besteht aus 16 dicken Ordnern, 17 Fotoalben, Hunderten Postkarten und zahlreichen Andenken aller Art bis hin zu Prospekten, Tickets, Rechnungen, Streichholzheftchen aus Hotels, Würfelzucker-Einwickelpapier usw. aus dem Nachlass einer Frau, über die der Autorin nur spärliche Informationen vorlagen. Fast jeder, der einmal eine Wohnung aufzulösen hatte, wird auf derartige Bestände gestoßen sein. Solche Dokumente wirklich zum Sprechen zu bringen, scheint nahezu ausgeschlossen, zumal wenn es sich um die Hinterlassenschaft „kleiner Leute“ handelt, man die sammelnde Person nicht kannte und auch nicht mehr befragen kann. Der Laie hätte wohl lediglich festgestellt, dass es sich um eine „Reisetante“ gehandelt haben muss, die viel in der Welt herumgekommen ist, mehr aber auch nicht.

Gerlinde Irmscher ist das Kunststück gelungen, anhand der Art zu Reisen den Habitus der Protagonistin als weibliche Angestellte und zugleich ihren Reisestil als konzentrierten Ausdruck ihres Lebensstils vorzuführen (vgl. S. 117), allerdings mit einem gewaltigen theoretischen Aufwand. Als Kulturwissenschaftlerin hat sie die Zugänge diverser anderer Disziplinen überprüft und gekonnt miteinander verschränkt. Damit setzt sie Ansätze einer interdisziplinären Reiseforschung fort, die seit den 70er Jahren existieren. Dennoch operiere die Tourismusforschung nach wie vor relativ theoriearm. Sie sei überwiegend getrieben von den kommerziellen Interessen der Reiseveranstalter. Das habe aufwendige Studien nicht ausgeschlossen, konzentriere sich aber auf Reisen als Ware, auf Freizeit als Konsumzeit, sehe die soziale, ökonomische und kulturelle Verankerung der jeweils Umworbenen nur als Bezugsgröße, um sie erfolgreich zum Kauf bestimmter Reiseangebote bewegen zu können.

Demgegenüber macht Irmscher im Anschluss an andere Autoren geltend, dass Reisen nicht nur eine Ware und Freizeit nicht nur Konsumzeit sei. Ganz im Marxschen Sinne solle die Freizeit arbeitender Menschen auch das „freie Spiel der menschlichen Kräfte“ fördern und jenseits von Fabrik und Büro die dort unterdrückten Fähigkeiten und Bedürfnisse der Menschen entfalten helfen. (vgl. S. 61) Am Beispiel von Wanda Frischs Reisebiografie wird deutlich gemacht, an welchen Stellen das gelingt und wo die Grenzen dieser Emanzipation liegen.

Die Autorin verteidigt grundsätzlich den bundesdeutschen Massentourismus des 20. Jahrhunderts. Sie sieht darin ein wichtiges Symbol des gesellschaftlichen Fortschritts (vgl. S. 123). Gegen kulturkritische Miesmachereien teilt sie kräftige, gut begründete Seitenhiebe aus. Wenn Tippfräuleins plötzlich weite Reisen unternehmen, wenn bestimmte Destinationen wie Mallorca gar zur „Putzfraueninsel“ werden, wenn Krethi und Plethi Kreuzfahrten buchen können, dann beschädigt das das Selbstverständnis der reisenden Eliten. Luxus ist an Rarität, an Exklusivität gebunden. Sobald er zum Massenphänomen wird, verliert er seine Funktion. Distinktionsbedürfnisse und Dünkel müssen sich dann ein anderes Terrain und möglichst stille Formen suchen. Das demokratische Programm einer „Kultur für alle“ dürfte wohl weiter das Reisen einschließen, wenn auch die Forderungen in Hinsicht auf Nachhaltigkeit, Umweltschutz, Gesundheitsschutz usw. dauerhaft die gesamte Tourismusbranche umkrempeln werden. Dieser Aspekt wird in Irmschers Studie nicht berührt. Sie endet zeitlich mit Wanda Frischs letzter Reise, als sie 2003 als 80jährige ein Schiff nach Helsinki besteigt.

Dafür sei hier noch auf ein lohnendes Kapitel verwiesen, das die Autorin speziell den Fotoalben im Nachlass der Protagonistin widmet. Die Fotos, die dazu gehörenden Bildunterschriften und die wenigen sonstigen handschriftlichen Eintragungen in den Alben nehmen eine Sonderstellung innerhalb der überkommenen Dokumente ein. Das Medium Fotoalbum selbst gehört einer vergangenen Zeit an. Um die Ästhetik der Aufnahmen brauche man sich nach Auffassung mancher Experten nicht zu kümmern. Schließlich handele es sich um die üblichen Knipsereien einer Urlauberin, die bestimmte Eindrücke festhalten wollte. Dem widerspricht die Autorin. Sie weist auf deren spezifische Qualitäten hin. Auch eine umfängliche Quellenkritik sei nicht nötig. Dem Historiker sei klar, dass alle Quellen lügen, auch und ganz besonders die fotografischen Aufnahmen. Aber um den Wahrheitsgehalt gehe es in diesem Zusammenhang gar nicht. Im Kontext dieser Reisebiografie interessiere vor allem das, was in der Oral History „Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Deutungsmuster“ genannt werde (vgl. S. 252).

Unter diesem Gesichtspunkt hätten Wanda Frischs Fotos wichtige Funktionen. Sie verliehen dem gesamten Konvolut Überzeugungskraft und Lebensnähe, brächten eine Individualisierung in das Quellenmaterial. Damit sei es möglich, den Werdegang der lebenslänglich reisenden Sekretärin als Fallbeispiel für übergreifende Abläufe zu begreifen. Ferner ließe sich anhand der Fotos das touristische Lernen der Frau nachvollziehen. Zeigten die Aufnahmen der ersten Jahrzehnte noch die klassischen Motive typischer Touristenfotos, so verliere sich dieses Muster nach und nach, bis sich in den 1990er Jahren Europäer offenbar gegenseitig als Touristen besuchen und wahrnehmen. Die soziale Fallhöhe zwischen Reisenden und Bereisten verringere sich, das Interesse am Alltag wachse, was an den späten Fotos aus Barcelona, Bologna und Helsinki abzulesen sei. Die vielen Reisen mit ihrem wechselseitigen Beobachten und Schauen von Touristen und Einheimischen hätten nicht nur das Auge, sondern den allgemeinen „Wahrnehmungsmodus“ (S. 284) geschult. Reisen bildet – weniger im Sinne formalen Wissens, als vielmehr dadurch, dass man beginnt, auch das vertraue Umfeld zu Hause mit dem Blick des Touristen zu betrachten, aus der Distanz, kritisch, staunend, wohlwollend, so wie man es im Urlaub gelernt hat. Vor allem dies dürfte wohl der wesentliche kulturelle Ertrag des Massentourismus sein.

Es ist ein Vergnügen zu lesen, wie geschickt und erfinderisch die Autorin mit einer „problematischen“ Quelle umgeht und zu welchen weitreichenden Denkergebnissen sie dabei kommt.