KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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RezensionKulturation 2018
über Arlie Russell Hochschild:
Fremd in ihrem Land
Dieter Kramer
Das Ăśberspringen der Empathiemauer
: Fremd in ihrem Land. Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten. Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff. Frankfurt am Main, New York: Campus Verl. 2017.

Die wachsende Spaltung der Gesellschaft in den USA ist eine Herausforderung für Arlie Russell Hochschild. Um sie zu verstehen interessiert sie sich als Soziologin, emeritierte Professorin der University of California, Berkeley, dafür, „wie Anhänger der Rechten das Leben empfinden – also für die Gefühle, die der Politik zugrunde liegen.“ (S. 9)

Sortierende Soziologie reicht nicht aus. Man kann feststellen, dass republikanische Wähler meist „weiße, ältere, verheiratete Christen mit niedrigem bis mittlerem Einkommen“ sind, aber für die „Tiefengeschichte“ will sie „wissen, was Menschen fühlen wollen, was sie ihrer Ansicht nach fühlen sollten oder nicht fühlen dürfen, und wie ihre emotionale Einstellung zu einer ganzen Reihe von Themen aussieht.“ (S. 34) Damit werden sozialkulturelle Prägungen wichtig.

Sie versucht den Menschen auf der anderen Seite mit Empathie entgegenzutreten und so die „Empathiemauer“ (S. 20) zu überwinden. „Eine Empathiemauer ist … ein Hindernis für das Tiefenverständnis eines anderen, das uns gleichgültig oder sogar feindselig gegen Menschen macht, die andere Ansichten haben oder in anderen Verhältnissen aufgewachsen sind.“ (S. 20) In den USA haben „Progressive und Tea-Party-Anhänger … unterschiedliche Empathie-Regeln, wie ich es nenne. Anhänger der Rechten haben tendenziell Empathie für die Reichen, Anhänger der Linken für arme Arbeiter… Jede Seite hat ihre eigene Empathie-Karte.“ (Anm. 1 S. 357). „Wir begnügen uns damit, unsere Gegenspieler von außen zu kennen. Aber ist es auch möglich, ohne ein Abrücken von den eigenen Überzeugungen andere von innen kennenzulernen, die Wirklichkeit mit ihren Augen zu sehen, die Verknüpfungen zwischen Lebensverhältnissen, Einstellungen und Politik zu verstehen, also die Empathiemauer zu überwinden?“ (S. 20) Das versucht die Autorin.

Sie legt eine qualitative empirische soziologische Studie vor (S. 38), freilich mit eigenwilliger Methode. Es geht um die Menschen und die Situation im Südwesten von Louisiana/USA am Golf von Mexiko, einem von Erdöl, Chemie und Fracking geprägten Gebiet mit außerordentlichen Umweltbelastungen. Eine begrenzte Anzahl von Personen, zu denen sie eher zufällig Kontakt bekommen hat, vor allem aus der konservativen (den Republikanern zuzurechnenden) „Tea-Party“ begleitet sie im Alltag, redet mit ihnen und erfährt von ihren Problemen. Die Gespräche sind ihre Quellen, einbezogen werden reale Entwicklungen wie Infrastruktur-Veränderungen, Industrieansiedlungen, Katastrophen (u.a. der Brand der Ölbohr-Plattform Deep-Water-Horizon 2010, S. 71, 96).

Ein „grosses Paradox“ (17.f.) besteht darin, dass alle unter Umweltschäden (das „Schlüssellochthema“ (S. 29 42) und Katastrophen leiden. Sie erleben, wie die eigene Welt sich negativ verändert, aber die Industrie wird begrüßt: „Arbeitsplätze Arbeitsplätze Arbeitsplätze“ (90 f., 92, 107 mit Öl zusammenhängend). Man muss sich zwischen sauberer Umwelt und Arbeitsplätzen entscheiden, scheint vorherrschende Meinung zu sein. Der Staat wird als Selbstbedienungsladen empfunden, aber der Ölindustrie Anreize für die Ansiedlung zu geben, scheint legitim (S.103).

Sie will „die Menschen verstehen, die den Staat eher als Problem denn als Lösung begreifen“ (S. 10/11): Nicht „Staatsverdrossenheit“ ist es, sondern es geht um das Gefühl (die Vorstellung), er mische sich zu viel ein und man könne in der amerikanischen Tradition besser selber entscheiden. Der Staat soll nicht zu viel regulieren (S. 102, 103). Ein Republikaner meint in einer Rede: „Wir müssen unser Land von einem Staat zurückholen, der unsere Verfassung ignoriert, unsere konservativen Werte ablehnt und unsere Steuergelder verschleudert“ (S. 87) – eine Haltung, die an Alexander Gauland in Deutschland erinnert. Überhaupt ähneln manche Argumentationen auf erstaunliche Weise denen der AfD.

Der Minimal-Staat soll eine Industrie schützen, die Arbeitsplätze schafft (155), und mit ihnen kann man den amerikanischen Traum von Fortschritt verwirklichen. Man fühlt sich in einer langen Schlange, die allmählich auf den Hügel zuwandert, hinter dem dieser Fortschritt winkt. Wenn man ihn nicht erreicht, dann gibt es wenigstens die himmlische Belohnung: 41 Prozent der us-amerikanischen Bevölkerung erwarten die Wiederkunft Christi bis spätestens 2050 (S. 174). Aber man hat das Gefühl, dass immer wieder andere sich in dieser Schlange vordrängen: Seit 1960 die aufgewerteten Minderheiten, später syrische Flüchtlinge (S. 293), und immer fühlt man sich betrogen und schiebt dem Staat die Schuld zu. Man will sich nicht vorschreiben lassen, mit wem man Mitleid haben soll und wem man helfen soll – so wird „political correctness“ abgewehrt. „Der Staat nahm den Arbeitern über ihre Köpfe hinweg Geld weg und gab es den Faulenzern.“ (161) Die „Empathiemauer“ (155) wird aufgerichtet.

Erinnert wird, wie es früher war (74), bevor Umweltschäden die Landschaft veränderten: Registriert werden die häufigen Krebsfälle und lokale Katastrophen (S. 138). Die Giftbelastung der Fische wird zur Kenntnis genommen, und man orientiert sich an den Empfehlungen, wie man damit umgehen soll (S. 156). Überwacht werden Umweltgruppen, nicht Unternehmen (S. 180).

Wenn es um die Nachwirkungen des Bürgerkrieges von 1860 für die Südstaaten geht, erinnert vieles an die Übernahme der DDR durch die BRD (277f.). Wenn die Unterprivilegierten seit den 1960er Jahren ins Blickfeld der Politik geraten, dann fühlen sich die christlichen „älteren weißen Männer“ an den Rand gedrängt (oder in der Schlange durch Vordrängler überholt) (S. 284, 287, 290) – Hilary Clinton hat vor der Trump-Wahl empathielos von ihnen als den „Deplorables“ gesprochen und damit viele Stimmen verloren. „All diesen … Grundlagen der Ehre und Anerkennung – Arbeit, regionale Herkunft, Bundesstaat, Familienleben und Kirche – lag der Stolz auf das Selbstverständnis in der Tiefengeschichte zugrunde.“ (291) Das Selbstverständnis der „kosmopolitischen oberen Mittelschicht“ (S. 292 ) liegt quer dazu. Und „…mit den Arbeitsplätzen für einfache Arbeiter kam deren Lebensweise aus der Mode und damit auch die Ehre und Anerkennung, die mit einer verwurzelten Persönlichkeit und dem Stolz auf das Durchhaltevermögen verknüpft waren – das mit der Tiefengeschichte verbundene Selbstverständnis. Die liberale obere Mittelschicht sah in der Gemeinschaft nur Abschottung und Engstirnigkeit, nicht die Quelle von Zugehörigkeit und Anerkennung“ (292) – aber ihre Angehörigen werden die nächsten sein, die verdrängt werden.

Die konservativen Medien (S. 163) wirken als Angstmacher und wie Echokammern (S. 59)- Die Kirchen (vier verschiedene Kirchengemeinden gibt es, S. 164) sind Stützen des gesellschaftlichen Lebens und organisieren die Gefühlswelt. Sie erwarten 10 Prozent des Einkommens. Die Bibel rechtfertigt alles (S. 172), auch die Industrie. Die Erwartung von Vergeltung im Jenseits spielt eine Rolle. „Nur der Erzengel Gabriel weiß, wann für jeden von uns die Zeit kommt. Aber wenn es so weit ist und die Schwerkraft unsere Füße loslässt und sie aufsteigen, weiß ich, dass ich Sie da oben wiedersehe. Und es heißt, da gibt es herrliche Bäume im Himmel!“ (S. 324) So verabschiedet sich ein Achtzigjähriger Informant, auf dessen Anwesen die Bäume der Umweltzerstörung zum Opfer gefallen sind. Eine andere Informantin sagt: „Und da nun Trump im Weißen Haus saß und ein Krieg möglich war, hatte Annette das Gefühl, die Endzeit, von der evangelikale Christen reden, sei nahe.“ (S. 329)

In der „Tiefengeschichte“ spielt „strukturelle Amnesie“ eine Rolle. „Ich hatte den Eindruck, dem großen Paradox langsam auf die Schliche zu kommen, indem ich täglich die Seiten der Empathiemauer wechselte, während ich versuchte, mich weiterhin auf die Ansichten meiner Freunde zu konzentrieren.“ Und: „Wenn man ein Problem einräumt, muss man zwangsläufig den Wunsch zugeben, es zu beheben.“ (S. 182) Doch wenn es keine Möglichkeit dazu gibt? „Vielleicht kehrte man ja doch lieber zurück zur strukturellen Amnesie?“ (S. 183). „Umweltverschmutzung ist das Opfer, das wir dem Kapitalismus bringen“, sagt eine Gesprächspartnerin. (S. 244) Die Religion dämpft den Schmerz.

Präsident Trump ist ein „Gefühlskandidat“ (S. 300/301). Der Ethnologe Emile Durkheim (Anm. S. 402) hilft mit seinem Buch über „Die elementaren Formen des religiösen Lebens“ (deutsch Frankfurt am Main 2007) die „kollektive Wallung“, den „Überschwang“ (S. 301) zu begreifen, die man beim Zusammentreffen mit Menschen gleicher Überzeugung empfindet (die Massenpsychologie will ihn viel brutaler durch die „Verführung“ des Charismatikers erklären). Indem man sich von der „Political Correctness“ und der „Mitleidsverpflichtung“ (305) entfernt, schafft man einen gemeinsamen Feind (S. 304) und erlebt eine „berauschende Befreiung von dem Gefühl, fremd im eigenen Land zu sein.“ (S. 306)

Konservative im Norden der USA schließen sich denen im Süden an, und es wollen die „Reichen und alle, die sich mit ihnen identifizieren, sich von der Last befreien, den Unterprivilegierten zu helfen. In den gesamten Vereinigten Staaten herrscht die Vorstellung, dass Almosen einzustellen seien. Dann würden die Reicheren im ganzen Land frei sein von den Ärmeren und sich von ihnen trennen.“ (S. 295) Im Jahr 2001 wurde der radikale Sozialabbau mit dem Beispiel von Wisconsin vom hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch als Vorbild gepriesen (Roland Koch: Gemeinsam Chancen nutzen. Reden und Aufsätze des hessischen Ministerpräsidenten ... Frankfurt/M.: Societäts-Verlag 2001, S. 238-245, S. 239).

Die „Tiefengeschichte“ hilft bei der Erklärung des Hasses auf den Staat (S. 183) „Eine Tiefengeschichte ist die gefühlte Sicht der Dinge, die Emotionen in Symbolsprache erzählen. Sie blendet das Urteilsvermögen und die Tatsachen aus und erzählt, wie die Dinge sich anfühlen.“ Mit dem „subjektiven Prisma“, durch das die Welt gesehen wird, lassen sich die Einstellungen der „anderen“ verstehen. Auch wenn man angewiesen ist auf staatliche Unterstützung und Hilfsprogramme in Anspruch nimmt (S. 160), wird grundsätzlich der schwache Staat gefordert (S. 59, S. 160) Staatsminimalismus wehrt sich gegen Überregulierung, aber nicht gegen alles (S. 252). Faktenchecks im Anhang (S. 344, 348) helfen zu relativieren.

Der Bürgerkrieg von 1860 und dann die 1960er Jahre mit dem neu auf Minoritäten gelenkten Interesse werden im Süden als zwei Aspekte einer Benachteiligung und Bevormundung erlebt (278). Den Republikanern zuneigend, meinen viele dieser Personen, „die Demokratische Partei habe ihnen nichts zu bieten, sondern habe ihnen das Gefühl vermittelt, kulturell fremd in ihrem Land zu sein.“ (S. 328)

Es geht der Autorin nicht um die Lösung des Rätsels, weshalb rechtskonservativ gewählt wird (S. 332), sondern um die Wiederherstellung der Fähigkeit des Umganges miteinander. Die Spaltung nimmt zu. Aber: „Glücklicherweise besitzen die Vereinigten Staaten eine robuste Zivilgesellschaft“, aus der neue Impulse kommen (331), und an einigen Indizien wird erkennbar, dass der geschilderte Zustand sich auch ändern kann – etwa wenn es um Umweltschutz geht, es gibt auch einen Umweltaktivisten (Mike Schaff, S. 19)

Die Erfahrungen mit freundlichen und gesprächsbereiten Anhängern der Tea-Party haben der Autorin gezeigt, dass man die trennende „Empathiemauer“ auf der menschlichen Ebene leicht einreißen kann (S. 312). Fruchtbare Begegnungen sind möglich und Kooperationen scheinen denkbar. Sie schreibt zwei fiktive Briefe, einen an ihre liberalen Freunde und einen an ihre neuen Rechten Freunde (S. 213/214), und fordert beide zum wechselseitigen Dialog auf. Sie will die Kluft überwinden mit der Anerkennung der jeweils eigenen Tiefengeschichte und so eine Basis für eine mögliche Moderation auf der praktischen Ebene erkunden, zumal der globale Kapitalismus für alle Probleme mit sich bringt. „Über eine derart tiefe politische Kluft hinweg aufeinander zuzugehen, zielt keineswegs darauf ab, in allen Dingen einer Meinung zu sein, was in der gegenwärtigen Lage unmöglich ist, sondern Differenzen zu akzeptieren und Gemeinsamkeiten zu finden.“ (332) Führt das auch hierzulande weiter?

© Dieter Kramer Dörscheid/Loreleykreis Mittwoch, 26. September 2018 kramer.doerscheid@web.de