KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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RezensionKulturation 
über Andrea Ypsilanti :
Und morgen regieren wir uns selbst - Eine Streitschrift
Dieter Kramer
Wo geht’s lang?
Überlegungen anlĂ€sslich des Buches
„Und morgen regieren wir uns selbst“, Frankfurt am Main: Westend Verlag 2017. 247 S., 18 €.

Der moralische Verfall der wirtschaftlichen und politischen Eliten
Parteien und politische Willensbildung
Die Zerstörung der individuellen Existenzsicherheit und der Infrastruktur
Wo gehtÂŽs lang?
LebensqualitÀt ist wichtiger als Wachstum
Krisen vor der TĂŒr
Die Rolle der Kultur

Der moralische Verfall der wirtschaftlichen und politischen Eliten
Ende der 1970er Jahre, als ich in Frankfurt am Main bei Hilmar Hoffmann anfing, waren bei den „RömerberggesprĂ€chen“ Vertreter der Wirtschaft, die sich gegen die Angriffe der 1968er verteidigen wollen, manchmal ausgesprochene Lachnummern. Ihre Argumente kamen in dem intellektuellen Milieu ĂŒberhaupt nicht an. SpĂ€ter hörte ich einen von ihnen sagen: „Wir wollen nicht mehr mit leeren HĂ€nden dastehen“, und so erklĂ€rte er die Offensive der Kreise der Wirtschaft mit Sponsoring, CSR (corporate social responsibility) und dergleichen.
An den von Großunternehmen gestifteten Institutionen wie dem neuen Ausstellungszentrum „Prinzessinnenpalais“ der Deutschen Bank unter den Linden in Berlin sollte man heute erklĂ€rende Gedenktafeln anbringen, wie es sie an manchen DenkmĂ€lern der Vergangenheit gibt, die man nicht beseitigen will oder kann, etwa mit einem solchen Wortlaut:

Gestiftet von der Deutschen Bank
Die Deutsche Bank war mit Hermann Josef Abs wirkungsvolles Instrument zur Ausbeutung der von Hitler besetzten Gebiete, sie profitierte mit den von ihr finanzierten Firmen an der „Vernichtung durch Arbeit“ der KZ-Insassen (Juden und anderen), sie half nach dem Motto „Caveat emptor“ (der KĂ€ufer möge sich hĂŒten!) mit „Finanzprodukten“ wie fragilen Derivaten jĂŒngste Wirtschaftskrisen zu produzieren und die KĂ€ufer zu Schuldigen zu machen, sie kassiert bedeutende Teile der „Griechenland-Hilfe“ als Zinsen, hilft die Russland-GeschĂ€fte von Donald Trump zu finanzieren, und einige ihrer ReprĂ€sentanten sind in zahlreichen Prozessen in den USA und in Deutschland rechtskrĂ€ftig verurteilt.


Eine Menge von KĂŒnstlerinnen und KĂŒnstlern, Kulturinstitutionen und Kulturpolitikern wurde, auch mangels Alternativen, seit den 1980er Jahren „eingekauft“, und sie stĂŒtzen jetzt die Marktwirtschaft mit Kreativwirtschaft und Start ups. Sie vertreten das „Wachstumsmantra“ (S. 141; soweit nicht anders angegeben beziehen sich die Verweise auf das Buch von Ypsilanti), trĂ€umen gar von der ultimativen Innovation der Marsbesiedelung als Ausweg aus den „multiplen Krisen“ des ruinierten Heimatplaneten.
Inzwischen ist die moralische Verkommenheit der hegemonialen Klassen in Wirtschaft und Politik in Deutschland, ja weltweit, fortgeschritten: Lobbyismus, fließender Übergang von der Politik in die Wirtschaft, SpendenaffĂ€ren, Steuerflucht, hemmungslose Bereicherung, BetrĂŒgereien der Autobauer, Missbrauch der Wissenschaft sind die AusprĂ€gungen. Wer kann schon verstehen, wenn ein deutscher Siemens-ReprĂ€sentant sich Donald Trump andient, oder wenn Audi und Daimler die Politik von Ungarn und Polen legitimieren (Die Zeit v. 21.09 2017), wenn Menschen- und Affenversuche zur Rechtfertigung der UntĂ€tigkeit bei der Luftreinhaltung verwendet werden?
Man kann, wie einst Jutta Ditfurth, den Dalai Lama als ReprĂ€sentanten einer untergegangenen Klasse von religiösen Großgrundbesitzer-Klöstern mit unterdrĂŒckten abhĂ€ngigen Bauern betrachten. Aber er gehört zu den Symbolfiguren, die das von der UN gestĂŒtzte Recht einer Gemeinschaft verteidigen, nicht in oktroyierter Zwangsmodernisierung, sondern in der WĂŒrde der eigenen Kultur und Religion zu leben. Aber wenn der Autobauer Daimler sich beim chinesischen Botschafter in Berlin dafĂŒr entschuldigt, dass er in einer Werbebotschaft den Satz des Dalai Lama „Betrachte Situationen von allen Seiten und du wirst offener“ zitiert und damit die „GefĂŒhle des chinesischen Volkes“ (wurde das dazu gefragt?) verletzt und ihm Leid zugefĂŒgt habe, dann ist das Verrat an den immer wieder hervorgehobenen Prinzipien der „westlichen Wertegemeinschaft“ (s. Taz v.9.2.2018).
Das alles hat beigetragen zur Entfremdung breiter Teile der Bevölkerung von der Politik. Da muss man mit StĂ©phane Hessel sagen: „Empört Euch!“ (S. 98/99)
Aber die „hegemonialen Klassen“ haben heute anders als noch vor Jahrzehnten wenig Anlass, mehr als oberflĂ€chlich an ihrem Image zu arbeiten. Keine einflussreiche (!) Intellektuellenszene zwingt sie dazu. Und ihr Verhalten wird von der Politik viel zu wenig skandalisiert (S. 145). In der SPD gibt es keine ernsthafte Kritik, auch keine AnsĂ€tze fĂŒr eine Politik gegen die Interessen der Großkonzerne, weil viele ihrer SpitzenfunktionĂ€re direkt oder indirekt verbandelt sind mit den Konzernen.
Andrea Ypsilanti kritisiert ihre Partei, ihre Spitzenvertreter und deren Politik sehr deutlich (z. B. S. 22). Seit dem Erscheinen des Buchs im Januar 2018 hat sich die Krise der SPD dramatisch verschÀrft, und es wird interessant sein, wie Ypsilanti in einer zweiten Auflage darauf eingeht. In den aktuellen Dissonanzen des Februar 2018 werden die Impulse dieses Buches wohl (noch) kein Echo finden.
Es gibt viele Wunden zu lecken (s. Peter Unfried Interview TAZ 27/28.1.2018). Die Utopie der „Sozialen Moderne“ von Andrea Ypsilanti und dem dann rasch verstorbenen Hermann Scheer in Hessen (S. 77, S. 83/84) wurde 2008 durch vier Stimmen in der SPD-Landtags-Fraktion zu Fall gebracht, weil sie nur mit Duldung der Abgeordneten der Linken möglich gewesen wĂ€re. Dass daraus abgeleitet wurde, mit den Linken dĂŒrfe nie zusammengearbeitet werden, brachte ein lĂ€hmendes Moment in die weitere Entwicklung. Wenn danach unter Mitwirkung von A.Y. die rot-grĂŒn-rote „Solidarische Moderne“ als BrĂŒcke zwischen den reformwilligen Parteien gebildet wurde, dann war das nur ein schwacher, freilich auch nicht wirkungsvoller Ausgleich.
Aber „Rot-Rot-GrĂŒn ist tot“ (Sahra Wagenknecht TAZ v. 7.MĂ€rz 2018), und zwar nicht erst seit der neuen GroKo, sondern schon, als die GrĂŒnen die ersten BĂŒndnisse mit der CDU in Frankfurt am Main und anderswo schlossen. Das kann sich wieder Ă€ndern, aber eine große „Sammlungsbewegung“ wird’s auch nicht bringen. Die Parteien durch die jeweilige Basis unter Druck zu setzen ist vielleicht interessanter.

Parteien und politische Willensbildung
„Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ (Art. 21.1 GG) Die SPD hat (vielleicht noch grĂŒndlicher als die anderen Parteien) versagt bei dieser ihr vom Grundgesetz zugewiesenen Aufgabe. Sie hat den WĂ€hlerinnen und WĂ€hlern und ihren Mitgliedern autoritativ („alternativlos“ seit Schröder) Entscheidungen vorgesetzt, die sie als klug und richtig bezeichnet hat und bestĂ€tigt sehen will – wie jetzt wieder die nach heftigem moralischen Bedenken abgesegnete „alternativlose“ neue Große Koalition, entstanden aus berechtigter Angst vor dem Erstarken der AfD in Neuwahlen. Vergessen hat sie seit langem, ihre Untergruppierungen (wie die Jungsozialisten) und die Ortsvereine als Diskussionsforen ernst zu nehmen und damit in die Öffentlichkeit und darĂŒber auf die Partei zu wirken (manchmal eher voller Hohn erinnern die Medien gern an diese „Ortsvereine“ als anscheinend alte Zöpfe).
Die Mitglieder und deren Gruppierungen wie Ortsvereine (S. 111) zu vernachlĂ€ssigen und durch mediale (und digitale) Kommunikation zu ersetzen gehört zur der neoliberalen „Revolution“ (S. 135, 154). Die Mitwirkung an der politischen Willensbildung wird verfĂ€lscht, wenn Lobbyisten, Berater und „proaktive“ Stiftungen wie Bertelsmann im Vorfeld als offene oder heimliche (ungenannte) Stichwortgeber agieren. Damit geht die Transparenz der Willensbildung verloren. Das gilt auch, wenn die Parteien sich an Umfragewerten orientieren. So wirken sie nicht in eigener Verantwortung, geprĂ€gt von den Werten, zu denen ihre Mitglieder stehen und denen sie ihre Existenz verdanken.
Gefordert sind Parteien fĂŒr die „Willensbildung“ der WĂ€hler als Stichwort- und Impulsgeber, die ĂŒber Alltagsinteressen hinaus Wegmarken setzen – etwa fĂŒr eine „sozialökologische Transformation“, fĂŒr die Abwehr der Übermacht der Finanzwelt, fĂŒr die BekĂ€mpfung des Auseinanderdriftens der Gesellschaft oder um Strategien gegen ethnische, soziale oder genderspezifische Diskriminierungen und Benachteiligungen zu entwickeln.

Die Zerstörung der individuellen Existenzsicherheit und der Infrastruktur
Die SPD ist einen Weg gegangen, bei dem entscheidende WĂ€hlergruppen sich nicht beachtet fĂŒhlten. Sozialpolitik wurde den „Marktgesetzen“ unterworfen, und Ypsilanti (S. 65) erinnert daran, dass mit dem „radikalsten Abbau des Sozialstaates“, durch die Agenda 2010 vielen Menschen die lange erarbeiteten bescheidenen Sicherheiten fĂŒr das Alter zerstört wurden (fĂŒr viele geht es angesichts der multiplen Krisen um Existenzfragen, S. 125 126). Eine „soziale Enteignung“ der Arbeiter und der Mittelschichten hat stattgefunden. Und wenn festgestellt wird, dass immer mehr Menschen auf die Hilfe von „Tafeln“ angewiesen sind, dann wird nie erwĂ€hnt, dass zur gleichen Zeit die Reichen immer reicher werden.
Der Niedriglohnsektor wurde zugunsten der Unternehmen ausgeweitet, und Deutschland konnte als Niedriglohnland international erfolgreich werden. Wie soll da Sympathie fĂŒr die Parteien, die dafĂŒr verantwortlich sind, erhalten bleiben? Es ist auch kein Trostpflaster, wenn nach dem Abbau des Sozialstates die Enteigneten mit minimalen Zuwendungen in der „Armut per Gesetz“ konsumfĂ€hig gehalten werden. Wie ein Zynismus wirkt es dabei, dass sogar SozialhilfeempfĂ€nger jetzt einen eigenen Pkw besitzen dĂŒrfen (S. 65), wenn sie eine Schrottkarre noch finanzieren können – auch eine indirekte Absatzhilfe fĂŒr die Autoindustrie, deren Krise schon lange voraussehbar war.
Die Unternehmen werden durch die extreme Ausweitung des Niedriglohnsektors und durch die radikale Verminderung der Kapitalertragssteuer (S. 66) zu Investitionen ermutigt, mit denen sich die Zerstörung der Lebenswelt im Wachstumszwang beschleunigt. „Fluchtursachen“ (Push-Faktoren) werden geschaffen durch die „Externalisierung“ (Brand/Wissen: Imperiale Lebensweise. MĂŒnchen: 2017) von Kosten und Produktionen (z. B. von Futtermitteln fĂŒr Fleischvieh auf FlĂ€chen, die durch „Landgrabbing“ den Kleinbauern im SĂŒden weggenommen werden). Dann wundert man sich, dass die Pull-Faktoren der ProsperitĂ€t Migranten nach Europa locken.
VernachlĂ€ssigt werden durch die Politik des „armen Staates“ Raum- und Regionalpolitik (S. 50, S. 189), damit auch die ErfĂŒllung des Verfassungsauftrages, „gleichwertige Lebensbedingungen“ in Stadt und Land zu schaffen und damit die StĂ€dte durch Aufwertung der Regionen zu entlasten (was in den 1970er Jahren noch Aufgabe z. B. der Hessischen Regionalplanung war), ebenso die Infrastruktur von Bildung (Voraussetzung fĂŒr die Demokratie, S. 200), Gesundheit und Freizeit, aber auch die Digitalisierung (S. 190) als Bestandteil von Öffentlichkeit – eigentlich alle zur LebensqualitĂ€t gehörend (S. 177/177, 199) und unverzichtbare Bestandteile der sozialen und materialen Grundrechte, man schaue etwa in die Hessische Verfassung.
„Klassische Milieus und soziale Klassen“ erwarteten 1998, dass die SPD den „neoliberalen Experimenten und Parolen“ ein „verdientes Ende“ bereiten werde (S. 62): Lafontaine stand fĂŒr Gerechtigkeit, Schröder fĂŒr Innovation. Statt Umverteilungspolitik zu fördern (was sonst ist angesichts der immer weiter steigenden sozialen Unterschiede auch heute angesagt?) hat die SPD sich mit dem Schröder/Blair Papier den „Marktgesetzen“ unterworfen. „Die Entfremdung zwischen den herrschenden Klassen, den selbsternannten Eliten und den Mittelklassen und Arbeitermilieus hat sich in dieser Krise exponentiell entwickelt. Dies nutzt zum Teil dem rechten Populisten.“ (S. 97) Die demagogische Revolte (zu der auch Trump gehört) wurde durch die VernachlĂ€ssigung der Vorfeld-Organisationen befördert (111, 115, auch die Naturfreunde werden genannt 191).

Wo gehtÂŽs lang?
Es geht in dem Buch von Andrea Ypsilanti um die SPD. Oft werden die „Linke“, die mögliche linke Hegemonie mitgedacht, auch die „GrĂŒnen“, aber eher nicht selbstĂ€ndig einbezogen. „Es gibt keine Zeit mehr fĂŒr alberne und hochmĂŒtige Abgrenzungsrituale zwischen Parteien, die eigentlich vieles gemeinsam auf den Weg bringen könnten.“ (S. 216) So heißt es im Nachwort von September 2017, in dem noch einmal die Hauptthemen angeschnitten werden (ohne Außen- und Friedenspolitik).
Peter Unfried schreibt in der TAZ (27/28. Januar 2018) ĂŒber Ypsilanti: „Ihre soziale Moderne basiert neben der Umverteilung und der von Sozialdemokraten meist notorisch ignorierten ökologischen Wende auf revolutionĂ€ren Politikinstrumenten, etwa radikale ArbeitszeitverkĂŒrzung und bedingungsloses Grundeinkommen.“ (s. S. 170) Da haben Steuerfragen (S. 138), Maschinensteuer (S. 170), Care Arbeit (S. 164) ihren Platz. Sie sieht die Chance, „beim Übergang von der Industriegesellschaft zur digitalen darin, das ökonomische und kulturelle Band neu zu knĂŒpfen, das eine Gesellschaft zusammenhĂ€lt.“ (Unfried a.a.O.)
Mit Camus und dem wiederentdecken Mediterranen Syndikalismus (S. 208) wird an den „sozialen, ökologischen und kulturellen Umbau“ (S. 217) gemahnt. Die Commons-Bewegung (S. 98) wird angesprochen, aber dass durch die Neubewertung der Gemeinnutzen mit Elinor Ostrom, durch die Gemeinwohlökonomie samt Gemeinwohlbilanzen und durch die ReformansĂ€tze z. B. in den österreichischen Genossenschaften zusammen mit den vielen Nischen-Initiativen große Chancen und politisches Potenzial entstehen, wird weder hier (schon gar nicht bei der Sozialdemokratie insgesamt) noch bei den „Linken“ erkannt, auch nicht bei Sahra Wagenknecht. Der Hinweis auf die spanischen Mondragon-Kooperativen (S. 186) ist wichtig, auch an den Munizipalsozialismus der Zeit vor 1933 kann man erinnern. Wenn die „Solidarische Moderne“ behauptet, auf der lokalen Ebene perspektivisch zu arbeiten, dann möchte man davon auch etwas sehen!
Die immer wieder vielgepriesenen freien Initiativen reichen nicht. Die in Gang gesetzten „molekularen Wandlungen“ (Dieter Klein) sind nur dann weiterfĂŒhrend, wenn mit ihrer Hilfe Pfade von ĂŒber sich selbst hinaustreibenden Reformen angestoßen werden. Ein Beispiel ist die sĂŒdtiroler Initiative „Pestizidfreies Mals“ (s. Rezension Schiebel 2017 in Kulturation): Mit dem dort gewonnenen BĂŒrgerbegehren werden Nachdenkprozesse und AktivitĂ€ten in Gang gesetzt, die weitere nach sich ziehen. „Das kleinste Ereignis kann ein Loch in den grauen Vorhang limitierter Handlungsmöglichkeiten reißen“, wird Mark Fisher bei Ypsilanti zitiert (155) Die SpielrĂ€ume fĂŒr neue Pfade sind verdammt eng, aber es wĂ€re strĂ€flicher Leichtsinn, sie nicht zu nutzen. Vorlagen existieren (S. 206; eine solche Vorlage war auch Das gemeinsame Regierungsprogramm der Sozialisten und Kommunisten in Frankreich. Hrsg. und eingeleitet von Werner Goldschmidt. Köln: Pahl Rugenstein 1972 [Hefte zu politischen Gegenwartsfragen 4]).
Wenn es um innovative „Bottom up“-Initiativen, um „alternative Nischen“ (S. 158), um „molekularen Wandel“ geht, dann ist da der springende Punkt: Sie mĂŒssen verstetigt und in (politische) Strukturen eingebaut werden, zunĂ€chst am besten auf der lokalen oder regionalen Ebene.

LebensqualitÀt ist wichtiger als Wachstum
Dabei lĂ€sst sich leicht anknĂŒpfen an das, was den Menschen im Alltag ohnehin wichtig ist: LebensqualitĂ€t, Enkelgerechtigkeit, und ein Leben, das die Chancen dessen nutzt, was da ist (Suffizienz). Krisenresilienz (S. 132) kann so entstehen (hoffentlich brauchen wir sie nie wirklich, aber sie kann nie schaden).
LebensqualitĂ€t ins Zentrum der Politik zu stellen ist verfassungskonform. Da geht es dann auch darum, „wie wir leben wollen“ (S. 140). Wachstum und die Parole, allen (!) soll es immer besser gehen, passt eher nicht. Mit dem Motto LebensqualitĂ€t sind auch bĂŒrgerlichen Milieus am ehesten anzusprechen. Ob man eine solche „solidarische Gesellschaft“ (S. 203) RĂŒckeroberung von „Sozialismus“ nennen muss, weiß ich nicht (dazu mĂŒsste ich wissen, was Sozialismus heute wirklich ist).
Es kommt fĂŒr die Linke darauf an, in den Herausforderungen der Krise (S. 125) nach der „eigenen Melodie“ zu suchen. Ein reformierter und aktualisierter, moralisch verantwortlicher Ordo-Liberalismus, wie Sahra Wagenknecht ihn vorschlĂ€gt, reicht dazu nicht aus: Ihr Buch von 2016 „spielt dem neoliberalen Kapitalismus deutscher AusprĂ€gung mit seiner AusteritĂ€tsfixierung immerhin – bildlich gesprochen – seine ‚rheinische Sinfonie‘ vor. Das ist mehr als viele andere DebattenbeitrĂ€ge leisten.“ (S. 124)
Die von Wagenknecht vehement vorgetragene gĂ€ngige Kritik am aktuellen Kapitalismus mĂŒndet in die Feststellung, die aktuelle Ökonomie befördere ProduktivitĂ€t und Fortschritt nicht mehr (Wagenknecht, Sahra: Freiheit statt Kapitalismus. Über vergessene Ideale, die Eurokrise und unsere Zukunft. Frankfurt am Main/New York: Campus 2011, erw. Neuausg. 2012, S. 10). Damit lĂ€sst sich bruchlos anschließen an eine leicht modifizierte Programmatik der Wachstumsgesellschaft, eingeschlossen das gebrochene Versprechen von Ludwig Erhard „Wohlstand fĂŒr alle“ (ebd. S. 45f.), aber es wird nicht gefragt, was denn Wohlstand und LebensqualitĂ€t wirklich sein sollen. FĂŒr einen „kreativen Kapitalismus“, der produktiv und gerecht ist, der sich auf Grundversorgung der BĂŒrger und GemeinnĂŒtzigkeit bezieht (ebd. S. 306, 307-312), sind Reform des Finanzwesens, öffentliche Banken, Sparkassen und Genossenschaftsbanken (ebd.: S. 286) notwendig. Wie wollen wir leben, wird gefragt (Wagenknecht, Sahra: Reichtum ohne Gier. Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten. Frankfurt am Main/New York: Campus 2016. 164). Eher naiv heißt es da: „Der Bedarf an GĂŒtern ist endlich, irgendwann ist er gedeckt“, aber diese Rechnung ist, wie das Aufzehren aller ProduktivitĂ€tsgewinne im 20. Jahrhundert und spĂ€ter gezeigt hat, ohne das Marketing gemacht: Befriedigt werden „BedĂŒrfnisse“, von denen die Menschen vorher keine Ahnung hatten. Genannt wird das Ziel einer „dynamischen, innovativen Wirtschaft, die den Wohlstand aller hebt“ (ebd. S. 263): Damit kann man jede Koalition eingehen. Vorgeschlagen werden viele Wege, aber Pfade, die dorthin fĂŒhren könnten, werden nicht genannt. Das Ziel muss einigermaßen klar sein, es kann aber kaum noch mit „Sozialismus“ umschrieben werden. LebensqualitĂ€t und Enkelgerechtigkeit mĂŒssen da eine viel grĂ¶ĂŸere Rolle spielen.
Bei Ypsilanti heißt es: „Sozialdemokratische Politik und Positionen waren in der Opposition bisweilen wirksamer als in der Regierungsverantwortung“. (S. 154)
Die europĂ€ischen Krisen, die Banken- und Staatskrise (89f.) werden und wurden durch die Duldung des wenig kontrollierten Derivate-Handels gefördert. Die verantwortungslose Finanzwelt muss in die Pflicht genommen werden. Mit ihrem Prinzip „caveat emptor“ (s. auch S. 120) deskulpiert sie sich und weist dem KĂ€ufer die Schuld zu. Hier lĂ€sst sich ein „Pfad“ entwickeln, der mit vergleichsweise wenig Aufwand Ergebnisse zeitigen könnte: Verpflichtung der Anbieter zu offensiver AufklĂ€rung der Nutzer und zu Regressmöglichkeiten.
„Wer nicht mehr versucht, eine eigene emanzipatorische Vorstellung von der vernĂŒnftigen Einrichtung der Gesellschaft zu entwickeln und fĂŒr diese intellektuell und emotional einzutreten, ist eben auch nicht in der Lage, eine Alternative zu zeigen.“ (S. 139)

Krisen vor der TĂŒr
Die Schwierigkeiten werden dabei immer gravierender. Michael Haneke stellt seinen Film CachĂ© unter das Motto „Was tut man nicht alles, um nichts zu verlieren“ und sagt in einem Interview: „Wir alle wollen nichts verlieren. Die einen arbeiten dafĂŒr wie die Wahnsinnigen, die anderen intrigieren oder betrĂŒgen. Und wieder andere hassen die, von denen sie glauben, dass sie ihnen ein StĂŒck vom Kuchen wegnehmen. So sind wir nun mal.“ (Katja Nicodemus: „Wir sind emotional blind.“ 
 Ein GesprĂ€ch 
 Die Zeit v. 28. Sept, 2017 S. 45) Das ist defaistisch.
Aktiv betreibt die AfD die „Entfesselung von Zornenergie“ nicht nur in den abgehĂ€ngten „Verbitterungsmilieus“, sondern sie kann damit auch bei den seit Jahren verunsicherten Mittelschichten punkten (Richard Sennett sprach schon in den 1980er Jahren davon). FĂŒr manche ist es irritierend, „dass sich auch WĂ€hler aus der Mittelschicht zur AfD hingezogen fĂŒhlen, vor allem Menschen, die mit ‚großem Pessimismus‘ in die Zukunft schauen oder eine baldige Verschlechterung der Lage erwarten. Seltsamerweise verspricht die AfD diesen ‚LeistungstrĂ€gern‘ keine Statussicherung, sie tadelt auch nicht den Wirtschaftsliberalismus, ganz im Gegenteil, sie kĂŒsst ihm sogar die FĂŒĂŸe. Vielmehr verspricht die AfD ihnen etwas, was sonst keine Partei im Angebot hat: nicht eine andere Gesellschaft, sondern ein neues Leben. Denn wie alle Rechten interessiert sie sich nicht fĂŒr die soziale Lage: Sie interessiert sich fĂŒr die Bewusstseinslage“, und sie „unterbreite(t) 
 Retro-Utopien. Die passgenau auf Unsicherheitserfahrungen zugeschnitten sind – Bilder, die von VerlĂ€sslichkeit und KontinuitĂ€t erzĂ€hlen, von Einfachheit, Klarheit und Überschaubarkeit, von heilen Familien in einer homogenen Nation.“ (Assheuer, Thomas: AufrĂ€umen im Miststall der Demokratie. In: Die Zeit v. 28. Sept. 2017 S. 45) Und am Ende steht eine „autoritĂ€r-integrale Kultur“ (wie bei Ernst JĂŒnger und Leopold Ziegler). Die versichert auch den verunsicherten Luxus-Auto-Bauern in der prosperierenden Stadt Heilbronn: „Weiter so wie bisher“. Dem muss entgegnet werden mit der Erinnerung daran, dass die Krisen durch Entscheidungen von Politik und Management verursacht sind, und die „Zornenergie“ muss darauf geleitet werden, nicht auf Stellvertreter wie Migranten, GrĂŒne oder Linke.
Was mich bei all dem nachdenklich macht: Es gibt in der Weltgeschichte seit dem Neolithikum so viele Aufstiege und NiedergĂ€nge von Staatengebilden („Kulturen“), die sich fĂŒr weltumspannend und ewig dauernd hielten. Viele davon waren einst langdauernder als die „Moderne“ der Gegenwart.

Die Rolle der Kultur
Beim Umgang mit den „multiplen Krisen“ spielt Kultur eine Rolle, freilich nicht im traditionellen VerstĂ€ndnis von Kultur und Kunst oder gar „Hochkultur“, sondern im Sinne der UNESCO, die 2001 „bekrĂ€ftigt, dass Kultur als Gesamtheit der unverwechselbaren geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Eigenschaften angesehen werden sollte, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen, und dass sie ĂŒber Kunst und Literatur hinaus auch Lebensformen, Formen des Zusammenlebens, Wertesysteme, Traditionen und Überzeugungen umfasst“. Das System der Werte und handlungsleitenden Standards des „guten und richtigen Lebens“ entscheidet darĂŒber, was Menschen wichtig ist und wie sie ihr materielles und soziales Leben organisieren und damit auch ĂŒber die Chancen eines sozialökologischen Umbaus entscheiden. „Zukunft ist ein kulturelles Programm“, hat Hilmar Hoffmann gesagt.
Das „durchökonomisierte Individuum“ (Ypsilanti S. 37), Ergebnis der sozialkulturellen Dynamik der „imperialen Lebensweise“ (S. 197/198), verbunden mit Psychopolitik (S. 44) und dem Streben nach Selbstoptimierung (S. 47, 165, 173, 178), in jeder Ratgeber-Spalte wieder zu finden, das alles trĂ€gt bei zur Identifikation mit dem gesellschaftlichen System (S. 48).
Events und die die Kulturwirtschaft kennzeichnen den heutigen Stand der „Hochkultur“ (S. 38, 41, 42). Aber schon die Verwendung dieses Begriffes bestĂ€tigt: Das ist eine eigene SphĂ€re, Kultur im zitierten Sinne der UNESCO ist jedoch unabtrennbarer Teil des gesellschaftlichen Lebens, und in ihr wird die „ideelle Wertegrundlage“ der Gesellschaft entwickelt und ausgestaltet.
Die kulturelle Infrastruktur der Institutionen der Kultur und Kunstpflege ist (wie die fĂŒr alle zugĂ€ngliche „Natur“) ein Gemeingut, das vom Staat und den nachgeordneten Gebietskörperschaften fĂŒr alle (S.173/174) vorgehalten wird. Das gilt nicht allein wegen der damit verbundenen Genussmöglichkeiten, die, wie Museen, BĂŒhnen, KonzerthĂ€user und BĂŒchereien, in der Regel öffentlich bereitgestellt werden und daher fĂŒr alle verfĂŒgbar sein mĂŒssen. Es gilt auch, weil damit eine tendenziell fĂŒr alle verfĂŒgbare (nicht unbedingt inhaltlich geteilte) Symbol- und Wertewelt entsteht, auf die man sich immer wieder beziehen kann. Die Religion gehörte frĂŒher ebenfalls dazu. Aber auch sie war nie der einzige Bestandteil dieser Struktur. Genauso wichtig war die SelbstverstĂ€ndlichkeit der Werte und Standards des gemeinschaftlichen Lebens, wie sie vermittelt wurden in der Organisation der LebensverhĂ€ltnisse in Gemeinnutzen, ZĂŒnften und sozialkulturellen Assoziationen wie Bruderschaften und Vereinen.
Ein „lebendiges und anregungsreiches kulturelles Milieu“ fĂŒr alle zu fordern (S. 180) ist mehr als nur die Teilhabe an einer sogenannten Hochkultur anzumahnen. In Zeiten der auseinanderdriftenden Gesellschaft, der Brutalisierung der Umgangsformen, der Verrohung und Entromantisierung des VerhĂ€ltnisses der Geschlechter und Partnerschaften ist es wichtig, auf breiter Basis die verbindenden Standards des Umganges miteinander in Erinnerung zu rufen.
Andrea Ypsilanti hat mit ihrer Analyse der Politik der SPD, der Kritik an den sozialökonomischen VerhĂ€ltnissen und den umrissenen Möglichkeiten fĂŒr neue Pfade der Politik Aufgaben formuliert. Es sind Aufforderungen fĂŒr Diskussionen, mit denen die Leitungsgremien der SPD (und die ganze Linke) konfrontiert werden mĂŒssen, damit eine fĂŒr WĂ€hler ĂŒberzeugende Politik entsteht. Bis 2021 ist noch Zeit fĂŒr harte Arbeit.

Dieter Kramer kramer.doerscheid@web.de 08.03.2018