KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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RezensionKulturation 2017
über Ursula Neumann:
Der Kirchenprofessor nimmt Vernunft an, wird mit mir glĂŒcklich und stirbt
Horst Groschopp
Das Intime im Historischen
Ursula Neumann:
Der Kirchenprofessor nimmt Vernunft an, wird mit mir glĂŒcklich und stirbt.
Norderstedt: Books on Demand (BoD) 2017, 402 S.
ISBN 978-3-7431-5843-6, 17.80 €

In der Zeitschrift „AufklĂ€rung und Kritik“ an die wissenschaftlichen und politischen Leistungen des langjĂ€hrigen Mitherausgebers Johannes Neumann (1929-2013) erinnern zu wollen, hieße, wie man sprichwörtlich sagt, Eulen nach Athen zu tragen. Auch in der Zeitschrift „humanismus aktuell“ der „Humanistischen Akademie“, finden sich von Johannes Neumann neun grundsĂ€tzliche Texte ĂŒber Humanismus, SĂ€kularisation und das Staat-Kirche-VerhĂ€ltnis.

Einige Monate vor seinem Tod stellte der Altphilologe Hubert Cancik, Nestor der deutschen Humanismusforschung, zunĂ€chst einem Vortrag und dann in dem gedruckten Text voran (vgl. „Die natĂŒrlichen Rechte des Menschen“, in: Horst Groschopp [Hrsg.]: Humanismus und Humanisierung, 2014, S. 10) eine in Form einer feierlichen Rede gehaltene lateinische Widmung. In dieser Zueignung nannte Cancik seinen langjĂ€hrigen Kollegen in TĂŒbingen einen „allermenschlichsten Menschen“.

Dieses Urteil ist hilfreich fĂŒr das VerstĂ€ndnis des vorliegenden ungewöhnlichen Buches. Es in einer Publikation zu besprechen, deren Leserschaft Johannes Neumann als Religionssoziologen kannte, weniger als Professor fĂŒr Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen FakultĂ€t der UniversitĂ€t TĂŒbingen oder als (damals noch sehr konservativen) Rektor der UniversitĂ€t (1971/72), ist nicht selbstverstĂ€ndlich. Diese Zeitschrift und Ă€hnlich orientierte Publikationen kannten Neumann als eine Art „Helden der AufklĂ€rung“, der sich von der katholischen FakultĂ€t, der römischen Kirche, der Theologie und „Kanonistik“ durch RĂŒckgabe seiner missio canonica am 24. Oktober 1977 öffentlichkeitswirksam trennte (vgl. den Brief S. 345-349). Forthin wirkte er als hochgeachteter Professor fĂŒr Rechts- und Religionssoziologie, der sich insonderheit der Erforschung der Lebenswelt von behinderten Menschen widmete und seine Kritik der ReligionsverhĂ€ltnisse mit dem Eintreten fĂŒr eine Trennung von Staat und Religion verband.

Genau die Zeit seiner „Wende“ 1974 bis 1979, in Gedanken und Schriften grĂŒndlich vorbereitet, ist Gegenstand des Buches seiner Frau, Kollegin und MitkĂ€mpferin Ursula Neumann (Jg. 1946). Doch kommen die „Theorien“ sowie die „Haupt- und StaatsaffĂ€ren“ nur als flankierende Ereignisse vor. Sie werden aus der PrivatsphĂ€re heraus betrachtet, mitunter sarkastisch und drastisch bewertet. Besonders Hans KĂŒng („das Waschweib“, S. 238 u.a.) kommt dabei nicht gut weg.

Die Autorin ist praktizierende Psychoanalytikerin. Sie wendet ihren Beruf an und schildert den „allermenschlichsten Menschen“, stellt ihn mitunter bloß, aber auch sich selbst und andere Beteiligte. Nichts Menschliches ist dem Buch fremd. Das ist mindestens gewöhnungsbedĂŒrftig, wenn man Johannes Neumann noch als klugen Streiter, stattlichen Redner und profunden Autor vor seinem geistigen Auge hat. Man erfĂ€hrt, woran er in den letzten Jahren schwer gelitten hat und woran er siechend gestorben ist: Kortikobasale Degeneration.

Ich ĂŒbernahm die Rezension, obwohl ich wusste, was mich erwartet. Anfang 2016 hatte mir Ursula Neumann die Rohfassung ihrer Studie zugesandt, um eine Herausgabe zu prĂŒfen. Der Titel lautete noch nicht so melodramatisch wie der jetzige, sondern sachlicher: „Verwickelte Entwicklung oder FĂŒnf Jahre unseres Lebens“. In ihrem ExposĂ© fasste die Autorin den Inhalt des Buches gut zusammen: „Nach dem Tod meines Mannes (2013) nahm ich nach fast 40 Jahren unsere vollstĂ€ndig erhaltenen Briefe aus der Zeit von 1974 bis 1979, die TagebĂŒcher, Kalendereintragungen und (mehr oder minder) offizielle Schreiben zur Hand. Sie sind der Inhalt des Manuskripts, verknĂŒpft mit meinen Gedanken und EindrĂŒcken beim Lesen von Dingen, die mir zum Teil noch ganz nah und vertraut, zum Teil völlig neu waren.“ Die Leserschaft wird in das Sichten und bewerten der Briefe und Notizen einbezogen. Sie nimmt an den Entdeckungen teil.

Entstanden ist eine sehr persönliche, sehr spannende ErzĂ€hlung. Es ist eine Art psychokultureller Analyse der handelnden, am Ende dann miteinander verheirateten Personen in einer entscheidungstrĂ€chtigen Zeit. Die Selbstbetrachtung stellt weitere unmittelbar involvierten Personen vor anhand von intimen Tagesbucheintragungen, Liebesbriefen und Dokumenten bzw. von der Autorin erinnerten Handlungen von Johannes Neumanns damaligen Geliebten und der eigenen Wirrungen der Autorin, die ihren Kampf, so darf man das wohl nennen, um den Mann aufarbeitet. Man kennt den Stoff aus Soap-Opern und Kammerspielen, bekommt in dem Buch aber Realgeschichte. Man könnte von guter Belletristik, einem „Lebensroman“ sprechen, sprĂ€che nicht die PrĂ€sentation der Dokumente dagegen.

Letztlich kannte nur Ursula Neumann den persönlichen Johannes („zögerlich, ratlos und zwiespĂ€ltig“, S. 253). Erstaunlich ist, dass all diese „EnthĂŒllungen“ letztlich zwar an beider „Denkmal“ kratzen, aber der öffentlichen Person des „allermenschlichsten Menschen“ nichts anhaben können („eindeutig und klarsichtig 
 in seinem Beruf und in universitĂ€ren Dingen“, S. 253). Das liegt vorwiegend daran, dass die Autorin die Person noch immer liebt. Es ist ihre Form „Abschied“ zu nehmen, ohne sich zu verabschieden: „So wurde die Begegnung mit jenen Jahren zum Abschied, den die alte Frau von heute von der jungen Frau von damals nehmen muss.“ (S. 391)

Es gibt in dem Buch lehrreiche Überlegungen, amĂŒsante Anekdoten und interessante Beobachtungen, etwa wenn Johannes Neumann am 11.10.1975 feststellt: „Aber bloße Philosophie und antiquarischer Humanismus fĂŒhrt mit zur Unmenschlichkeit, fĂŒhrt nach Auschwitz und Treblinka!“ (S. 100) Oder wenn er, der immer ein Agnostiker blieb, am 24.4.1976 schreibt: „Da ich das sog. ‘Urvertrauen’ (KĂŒng) nicht habe, bin ich zum Atheisten verurteilt.“ (S. 156) Oder wenn das „Charisma des Zölibats“ (S. 261) behandelt wird – als gelebte RealitĂ€t. Oder: „Ratzinger 
 hatte seinen Ruf nach TĂŒbingen vor allem KĂŒng zu verdanken – was fĂŒr eine hĂŒbsche Pointe!“ (S. 231)

Immer wieder diskutiert die Autorin ihren möglichen Anteil an der geistigen „Wende“ von Johannes Neumann. Sie kommt zu dem Schluss: „Ich hatte mich ja mit HĂ€nden und FĂŒĂŸen gegen die gĂ€ngige Interpretation gewehrt, wegen einer Frau habe Johannes die Kirche verlassen. Dabei bleibe ich auch. Aber was mir klarer wurde: Weil ich ihn mit einiger Unbeirrbarkeit daran hinderte, die vertraute Opferrolle zu spielen, sich hinter dem ‘Schicksal’ zu verstecken, konnte er sein Leben in die Hand nehmen.“ (S. 302)

Ursula Neumann stellt Vergleiche des Systems der SED mit dem der Katholischen Kirche an und findet Ähnlichkeiten. Dazu gĂ€be es viel zu sagen, gerade zu den Unterschieden. Verifizierungen setzen vergleichende Forschungen voraus. Aber noch sind wir nicht in der Zeit sachlicher Analogie- bzw. Kontrastfeststellungen. Die Kirche ist noch gegenwĂ€rtig und die SED-DDR-Gesellschaft erst kĂŒrzlich untergegangen.

Es mag fĂŒr die Leserschaft von „AufklĂ€rung und Kritik“ vielleicht arg befremdlich erscheinen, wenn Ursula Neumann, mit ihrem „analytischen Handwerkszeug zugange“ (S. 281), bezogen auf ihren Mann, masochistische PrĂ€gungen vermutet (vgl. S. 281 ff.). Die Distanz zu solcherlei Erörterungen ist mit einiger Sicherheit nicht nur darauf zurĂŒckzufĂŒhren, dass in Philosophenkreisen Denker wie Erich Fromm außer der Norm sind. Wichtiger scheint aber zu sein, dass die gesamte Kultur und Geschichte des modernen Sadomasochismus weitgehend unbekannt ist und in der „Schmuddelecke“ stattfindet. Jedenfalls ist dem gesellschaftlichen PhĂ€nomen prĂ€ziser nachzugehen, das vorwiegend und lediglich als eine sexuelle Verhaltensweise gesehen wird.

Nachdem nun wie unter vier Augen der „geheime“ Johannes Neumann kennengelernt werden kann, sollten wir uns nun endlich seinen verstreuten öffentlichen Schriften widmen und an einem Sammelband seiner Texte ĂŒber Humanismus und AufklĂ€rung arbeiten.