KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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RezensionKulturation 2011
über Shpresa Musaj:

Albaniens Religiosität – Konstante im Wandel der Zeit.
Siegfried R. Krebs
Albanien – ein Beispiel für interreligiöse Toleranz
Shpresa Musaj: Albaniens Religiosität – Konstante im Wandel der Zeit. Zwischenkirchliche und interreligiöse Toleranz auf dem Balkan. Wiss. Beiträge aus dem Tectum Verlag (Reihe Geschichtswissenschaft, Bd. 18). 246 S. Paperback. Tectum Verlag. Marburg 2011. 29,90 Euro. ISBN 978-3-8288-2693-9
Albanien, das ist für fast alle Menschen in Deutschland ein unbekanntes Land. Wenn, dann gibt es meist nur Klischee-"Wissen" frei nach Karl May: Blutrache, tanzende Derwische, stalinistische Diktatur, Albaner-Mafia oder Mutter Theresa. Kaum jemand weiß, daß Albanien das Land auf dem Balkan war, das den längsten Widerstand gegen die osmanische Eroberung leistete und das erst als letztes unterworfen werden konnte. Dennoch hatten bis zum Ende der Türkenherrschaft im Jahre 1912 etwa 70 Prozent der Bevölkerung den islamischen Glauben angenommen. Doch, und das weist Shpresa Musaj in ihrem Buch anhand vieler Quellen nach, gab es für diese Islamisierung eine Vielzahl von Gründen. Doch religiöse Überzeugung war in den seltensten Fällen ein solcher Grund.

Die Wissenschaftlerin geht den historischen Wurzeln für die noch heute spürbare zwischenkirchliche und interreligiöse Toleranz der Albaner nach. Denn Albanien stellt auf dem Balkan einen Sonderfall dar, gehörte doch seine Bevölkerung bis in die Gegenwart vier verschiedenen Religionsgemeinschaften an: dem (römischen) Katholizismus, der (griechischen) Orthodoxie, den Sunniten sowie der Muslimgemeinschaft der Bektashi. Sie alle lebten über Jahrhunderte friedlich zusammen.

Warum das so war und ist, das liege im Albanertum begründet, resümiert Shpresa Musaj. Damit meint sie den Primat des Ethnischen vor dem Religiösen. Und die religiöse Toleranz beruhe letzlich damit auf einem sehr alten – einem heidnischen – Substrat.

Bereits im Vorwort setzt sich die Wissenschaftlerin mit der bundesdeutschen Manie auseinander, jedem Menschen einfach eine religiöse Identität zuzuordnen. Denn in heutigen bundesdeutschen Statistiken stehen stereotyp diese Angaben zu den religiösen Verhältnissen im heutigen Albanien: 70 % Muslime, 20 % Orthodoxe und 10 % Katholiken. Grundlage für solche "Daten" sind mehr als 70 Jahre alte Statistiken. Dazu schreibt Musaj: "...obwohl das nicht die religiöse Realität des Landes widerspiegelt. Dadurch werden die sozialen, politischen, mentalen sowie religiösen Veränderungen der albanischen Gesellschaft [...] nicht in Betracht gezogen. [...] Viele Menschen aus den folgenden Generationen haben sich auch nach dem Sturz des Kommunismus zu keiner Religion mehr bekannt. [...] (Es) findet in den albanischen Schulen (auch heute noch) kein Religionsunterricht statt, und infolgedessen werden die jungen Generationen nicht religiös erzogen. Sie wachsen in einer Umgebung auf, in der alle drei Religionen in Harmonie miteinander leben und lernen dabei, auch im Alltagsleben tolerant zu sein. (S. 9-10) Was sie bezüglich der religiösen Daten in bundesdeutschen Angaben über Albanien konstatiert, trifft auch auf entsprechende Angaben zu anderen ehemals sozialistischen Staaten und auf die meisten Staaten des Trikont zu.

Spresa Musaj gibt mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit mehr als nur eine Untersuchung der historisch gewachsenen religiösen Verhältnisse der von Albanern bewohnten Länder, also nicht nur des seit 1912 unabhängigen Staates Albanien. Von besonderem Interesse dürfte für deutsche Leser vielleicht Kapitel 3 sein: "Die Anfänge des Christentums in den heutigen albanischen Territorien". Sie schreibt unter Berufung auf den Apostel Paulus (Brief an die Römer (15,19), daß die Anfänge der Christianisierung bis ins erste Jahrhundert unserer Zeitrechnung zurückreichen. Auch wenn die heidnische Bevölkerung dem neuen Glauben zumeist ablehnend gegenüber gestanden habe, seien seinerzeit zwei Päpste aus den albanischen Landen gekommen: Eleutherios (177-193) und Innozenz (401-417).

Aufgrund seiner geographischen Lage an der Grenze zwischen West- und Ostrom (Byzanz) habe sich Albanien über Jahrhunderte auch im Spannungsfeld von römisch-katholischer und griechisch-orthodoxer Kirche befunden. Dieser Zeit ist Kapitel 5 "Die albanischen Territorien als ost-westliches Spannungsfeld im Mittelalter" gewidmet. Insbesondere in den Adelsfamilien habe man stets zwischen beiden Konfessionen geschwankt, je nach den vorherrschenden politischen Machtverhältnissen. Dazu heißt es: "Dieses Verhalten bestätigt erneut die Annahme, daß die christliche Religion keine tiefen Wurzeln im Bewußtsein der Albaner geschlagen hatte, und legt gleichzeitig Zeugnis über ihre tolerante Einstellung zur Religion ab. Es war gerade diese Einstellung, die es dem albanischen Adel ohne große Bedenken ermöglichte, die Konfession zu wechseln." (S.83)

Shpresa Musaj geht später kurz auf die katholisch-christlichen Kreuzzüge ein, die auch durch albanische Gebiete führten: "Die Kreuzzüge, die im Zeichen des Krieges gegen den Islam begonnen hatten, wandten sich vom Krieg gegen die Ungläubigen ab und entwickelten sich zu einer der größten Plünderunggeschichten von (dem christlich-orthodoxen) Konstantinopel, deren Schätze sich im gesamten Westen verstreuten." (S.87)

Im Kapitel 7 ist überschrieben mit: "Unter dem Halbmond: Widerstand, Kooperation, Emigration und Konversion". Doch es regte sich nicht nur Widerstand für den Gjergj Kastrioti (Skenderbej/Skanderbeg) steht. Vielmehr war "der Sultan sehr daran interessiert, Wege zu finden, damit sein neugegründetes Reich, in dem die Mehrheit seiner Untertanen Christen waren, nicht aus dem Gleichgewicht gerät. Seine Herrschaft sollte funktionieren und Unruhen unter den Völkern sollten vermieden werden. Aus diesem Grund war er entschlossen, sich der christlichen Mehrheit seines Reiches anzupassen und ihnen Konzessionen zu machen. Er gewährte den Christen und den Juden das Recht, ihren Glauben zu bewahren, wenn sie die Kopfsteuer für Nichtmuslime [...] bezahlten." ( S.105 – 106).

Gerade aber diese Kopfsteuer, die im Laufe der Zeit immer höher wurde, wurde dann der Hauptgrund für Adel und Volk, zum Islam überzutreten. Ein weiterer Grund für den Übertritt war die Möglichkeit, in Heer und Verwaltung des Sultans Karriere zu machen. Nicht wenige Albaner bekleideten später hohe und höchste Ämter, auch das des Großwesirs. Dieses Amt haben mindestens 30 Albaner innegehabt.

Die Autorin hat angesichts intensivsten Quellenstudiums eine wichtige, bemerkenswerte Schlußfolgerung gezogen: "Hinter den materialistischen Weltanschauungen der Albaner verbirgt sich auch eine sehr alte Lebensweisheit, die wahrscheinlich jede religiöse Vorstellung überdauerte – und zwar die Sicherung der Fortdauer des Lebens, das hier und jetzt gelebt wird und wichtiger als jede religiöse Lehre ist." (S.131) Daher hätten auch uralte heidnische Vorstellungen (auch im hierzulande meist mißverstandenen "Kanun") überdauert und seien stets neben den offiziellen Bekenntnissen praktiziert worden. Bis in die Gegenwart hinein!

In Kapitel 8 "Interreligiöse Toleranz" schreibt Musaj über die harmonischen Beziehungen zwischen der muslimischen und christlichen Bevölkerung. Oftmals habe es in einer Familie sowohl muslimische als auch christliche Bekenntnisse und Glaubensausübung gegeben, so waren Ehen zwischen Muslimen und Christen keine Seltenheit. Sehr zum Leidwesen vor allem des römisch-katholischen Klerus. Ausführlich geht die Autorin auf den seinerzeit in Albanien sehr starken Bektashi-Orden ("die tanzenden Derwische") ein.

Wissenswertes erfährt man im Kapitel 9 über die Beteiligung der Albaner und insbesondere der albanischen Muslime an den nationalen Befreiungsbewegungen auf dem Balkan und an der Schaffung eines albanischen Nationalstaates. Im Gegensatz zu Griechen, Serben, Montegrinern und Bulgaren bildete in Albanien der Glauben keine ideelle Waffe in der nationalen Erhebung und bei der Staatsgründung. Die Albaner "wählten von Beginn an eine religionsübergreifende Ausrichtung, die als Grundvoraussetzung für den Integrationsprozess in der Bildung einer albanischen Nation fungieren sollte. [...] In diesem Konzept wurde die ethno-sprachliche Einheit des albanischen Volkes über die Religionsgrenzen hinweg hervorgehoben...". (S. 179 – 180)

Ein großes Manko ist das Fehlen eines Kapitels über die Zeit zwischen 1912 und 1944, als Albanien erstmalig als unabhängier Staat in die Völkergemeinschaft eintrat, auch wenn große Teile der albanischen Territorien aufgrund des Diktats der Großmächte anderen Staaten angeschlossen worden. Bemerkenswertes erfährt aber im Schlußkapitel: Als sich Präsident Ahmet Zogu 1928 zum König ausrief und eine neue Verfassung am 13. Dezember 1928 in Kraft setzte, wurde hierin das mulitreligiöse Albanien als laizistischer Staat definiert.

Unzulänglich ist auch das Kapitel 10, überschrieben mit "Die Zeit der kommunistischen Diktatur". Es ist leider stark ideologisch-agitatorisch gehalten. Zu bemängeln ist allein schon die Verwendung der Begriffe "Kommunismus" und "kommunistisch" für die Zeit der Volksrepublik vom 1944 – 1991/92. Denn kein einziges Land, einschließlich der Sowjetunion, hat sich jemals als kommunistisch bezeichnet und seine Gesellschaftsordnung als Kommunismus.

Im letzten Kapitel geht die Autorin kurz auf die gewaltigen Umbrüche in allen Lebensbereichen Albaniens nach 1991/92 ein. Hier schreibt sie knapp, aber aussagekräftig über das heutige demokratische Albanien, seine Religionen und Weltanschauungen. Ausführlich geht sie auf den Artikel 10 der Verfassung vom 21. Oktober 1998 ein. Auch das neue Albanien versteht sich - trotz aller Missionierungsversuche der katholischen Kirche und der verstärkten Einflußnahme islamischer Kräfte aus Saudi-Arabien und der Türkei - als laizistischer Staat.

Sie schreibt: "Ein wichtiger Rechtsgrundsatz in der albanischen Verfassung ist die Gleichbehandlung aller Religionen durch den Staat. Sämtliche Religionen sollen in den Augen der staatlichen Behörden gleichwertig sein. Aus diesem Grunde darf sich der Staat nicht mit einem bestimmten religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis identifizieren, sondern muß jeder Religions- und Weltanschauungsgemeinschaft neutral und und tolerant gegenüberstehen (Art.10, §3)" (S.204)

Die Grundrechte über die Religionsfreiheit werden im Artikel 24 der Verfassung noch erweitert: "... Jeder ist frei, sich nicht zu einer Religion zu bekennen, aus einer Religionsgemeinschaft auszutreten oder in eine andere überzuwechseln. Sowohl der Eintritt als auch der Austritt sind frei von staatlichem Zwang. [...] Alle Bürger genießen die Freiheit, ihre Meinung über die Religionen in der Öffentlichkeit zu äußern." (S.206)

Interessant ist in diesem Zusammenhang Shpresa Musajs Feststellung: "Beim Entwurf dieser Bestimmungen wurden nicht die westlichen Verfassungen imitiert, sondern der Staat griff auf die politischen Traditionen des eigenen Landes zurück." (S.205)

Sie schreibt auf S. 207 außerdem über das Gesetz Nr. 7952: "Die Lehrer sollen die vorgesehenen Unterrichtsprogramme unter Wahrung der Persönlichkeit der Schüler anwenden. Sie sollen jeden Einfluß auf soziale, politische und religiöse Überzeugung der Schüler vermeiden."

Die eingangs genannte Zahl von 70 Prozent aus bundesdeutschen Statistiken findet sich am Ende des Buches wieder. Aber in einem ganz andere Sinne. Aktuellen inneralbanischen Studien zufolge "...orientieren sich etwa 70 % der albanischen Bevölkerung, besonders die heutige junge Generation, an pragmatischen Werten [...] während der religiösen Kompomente keine Aufmerksamkeit geschenkt wird." (S. 212)

Obwohl dieses sehr spezifische Buch sich aufgrund seines Themas eher an einen kleinen Leserkreis wendet, sollte es doch von der deutschen säkularen Szene, sollte es von Kirchen- und Religionskritikern, sollte es von den Verfechtern des Laizismus, aufmerksam zur Kenntnis genommen werden. Denn es bietet quellengestützte Erkenntnisse, daß es auch anders geht, daß es keinem Bündnis von Thron und Altar bzw. von Kapital und Altar, daß es keiner Unterwerfungsgesten der Politik gegenüber einem Papst oder anderen Oberen der sogenannten Amtskirchen bedarf.

Die Autorin, Shpresa Musaj, ist 1968 in Albanien geboren. Sie studierte von 1988 bis 1992 an der Universität Tirana Sprach- und Literaturwissenschaften. Nach ihrem Abschluß emigrierte sie angesichts der politischen Wirren in ihrer Heimat nach Österreich und lebt seither in Wien, wo sie 2009 ein postgraduales Studium abschloß.
Shpresa Musaj arbeitet seit über fünf Jahren als Dolmetscherin für verschiedene Institutionen und Organisationen in Wien, darunter für das Bundesasylamt, und ist auch in der Dolmetscherliste des Asylgerichtshofs eingetragen.