KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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ReportKulturation 1/2004
Anna Scheer
Osama von Siddiq Barmak
„Der Verstand ist in den Augen – man glaubt, was man sieht.“ Und wer eine Gestalt in einer Burkha – ein Schleier, der von Kopf bis Fuß alles bedeckt – sieht, glaubt, dass dies eine Frau ist. Das Gesicht ist hinter einem Netz versteckt, so dass man nur schemenhaft erkennen kann, wer sich dahinter verbirgt.

Mehrfach taucht das Bild der verschleierten Menschen als Symbol der Unterdrückung in Filmen aus islamisch-regierten Ländern auf. So auch bei dem wahrscheinlich bekanntesten iranischen Regisseur Mohsen Makhmalbaf in einem seiner letzten Filme „Kandahar“ (2001), wo die Burkha auch die Möglichkeit zur Tarnung bot.

Mitte der 90er Jahre verlangten die nach Afghanistan eingedrungenen Taliban von allen Frauen das Tragen der Burkha. Frauen durften nicht auf die Universität, sogar Mädchen nicht mehr zur Schule – ihre Rechtlosigkeit führte so weit, dass sie nicht ohne männliche Begleitung in die Öffentlichkeit durften. Sie waren vollkommen auf die familiären Strukturen zurückgeworfen. Diejenigen, die keinen Mann in ihrer Familie hatten, die ihre Söhne, Brüder oder Mann in dem Krieg gegen die Sowjetunion verloren haben, hatten keine Möglichkeit zu überleben. Der erste längere Spielfilm, der nach dem Sturz der Taliban in Afghanistan gedreht wurde, thematisiert genau diese Situation – kurz nach der Machtergreifung der Taliban.

Der Film „Osama“ beginnt mit einer Demonstration von verschleierten Frauen. Sie tragen Transparente, auf denen steht: „Wir sind nicht politisch – Wir sind Witwen – Gebt uns Arbeit“. Kurz darauf kommen bewaffnete Talibankämpfer und treiben die Demonstrierenden mit Wasserwerfern auseinander. Ein Bündel mit einem Säugling fällt durch den Wasserstrahl auf die Erde. Man hört das Schreien der Frauen und sieht, wie sie wegen der langen Gewänder nicht schnell genug rennen können. Eine Frau flüchtet mit ihrer Tochter in ein Versteck, in das auch ein Junge rennt. Nur kurz schauen sich die Kinder an.

Auch in den nächsten Szenen wird wie ein Prolog die Situation der Mutter und ihrer Tochter beschrieben: Es gibt niemanden, der sie auf der Straße begleiten könnte, die Frau findet keine Arbeit, das Krankenhaus, in dem sie gearbeitet hat, wird geschlossen. Man sieht eine Gruppe von Menschen das Krankenhaus über einen langen Flur verlassen. Ein kleiner Junge mit einem Holzbein ist zu langsam, der Abstand zwischen ihm und den anderen wird immer größer. Die Stimmen verklingen, man hört nur noch das Klicken des Holzbeins im Rhythmus der ruckartigen Bewegungen des Kindes.

Der Regisseur Siddiq Barmak verwendet fast keine Musik, sondern nur die Originaltöne, was im Zusammenspiel mit den metaphorischen Bildern eine atemberaubende Wirkung erzeugt. Mit emotionalen Mitteln zu arbeiten, ist für ihn derzeit die einzig mögliche Form, Filme zu machen – in einem Land mit 85 Prozent Analphabeten, in dem nur wenigen dieses Medium vertraut ist. Barmak erzählt von den Frauen, „die immer als erstes leiden müssen“. Was wäre, wenn sie das Auge und damit den Verstand betrügen würden? Ist eine Frau ohne Burkha ein Mann?

Die Mutter wartet nicht auf einen Regenbogen, von dem es heißt, dass, wer unter ihm hindurchläuft, sein Geschlecht wechselt. Es gibt keinen Regen. Kurzerhand schneidet sie ihrer Tochter den Zopf ab und kürzt eine Hose ihres gefallenen Mannes. Das Kind ist nun ein Junge und hat die Möglichkeit, für seine Familie zu sorgen. Nur der Junge aus dem Versteck, Espandi, erkennt sie und fordert Schweigegeld. Doch gerade dieser Junge wird es sein, der sie später vor den Mullahs beschützt. Das Mädchen muss – wie alle Jungs – in die Koranschule, wo sie fast starr vor Angst ihre Entdeckung fürchtet. Sie rennt nicht, sie klettert nicht auf den Baum – weiß noch nicht mal ihren Namen. Danach gefragt, antwortet Espandi für sie: Osama. Einen Namen, den jeder kennt – und der ehrfürchtig klingt.

Der Regisseur entschied sich für diese märchenhaft strukturierte Geschichte, die alle angeht. Auch wenn die Taliban nicht mehr regieren, so wird es noch dauern, bis sie tatsächlich besiegt sind. „Wir müssen uns erst selbst zusammensetzen, dann das Land.“ sagte Siddiq Barmak in einem Interview, der seinem Film ein Zitat voranstellt: „Ich werde verzeihen. Aber ich werde nie vergessen.“ In der deutschen Fassung steht als Urheber Nelson Mandela, auch das Presseheft, gibt ihn als Verfasser an. Jedoch ist eindeutig in Farsi zu lesen, dass dort ein Text des iranischen Geistlichen Schariatmadari steht – ein Vordenker der Mudschaheddin. Barmak war selbst, nachdem er sein Regiestudium in Moskau abgeschlossen hatte, ab 1989 Kämpfer der Mudschaheddin, später begleitete er Massouds Truppen mit einer Kamera. Aus der Ferne wirkt dieser Weg widersprüchlich, zeigt aber vielmehr, wie kompliziert die politischen Verhältnisse in Afghanistan sind. Um so mehr wäre Aufklärung wichtig, stattdessen entsteht der Eindruck, dass man dem deutschen Zuschauer eine authentische Übersetzung des Film nicht zutrauen will. Auch an anderer Stelle wird merkwürdig ungenau übertragen: Als das Mädchen mit den anderen im Hammam ist und der Koranlehrer sich wundert, dass sie aussieht, wie Mann und Frau gleichzeitig, heißt es in deutsch „wie eine Nymphe“. Tatsächlich vergleicht er sie mit „Almanja“, den Deutschen.

Barmak, der mittlerweile wieder – wie auch vor der Talibanzeit – Direktor von „Afghan Film“ ist, engagiert sich um das Wiederaufleben der Filmkultur in Afghanistan. Hierfür wird er vor allem vom Iraner Mohsen Makhmalbaf unterstützt, der ihm Kontakte zu internationalen Produktionsfirmen vermittelte, durch die „Osama“ realisiert werden konnte. Ebenso abeitet auch der Kameramann Ibrahim Ghafuri sonst mit Makhmalbaf sowie dessen Tochter Samira.

Die Geschichte von dem Mädchen, was ein Junge werden will, geht nicht gut aus. Wiederum symbolträchtig inszeniert – dem Mädchen läuft das Blut ihrer ersten Menstruation die Beine hinab – droht ihr die Scharia mit dem Todesurteil. Dem kann sie entkommen, wird dafür aber mit einem alten Mullah verheiratet.


Die Hauptdarstellerin Marina Golbahari spielt ihre Rolle großartig. Den Ausdruck ihres Blickes, bevor sich die Tür mit einem großen Schloß für immer schließt, wird man nicht vergessen können. Der Regisseur suchte unter mehreren Tausend Mädchen nach einer geeigneten Darstellerin, bis er sie Marina Golbahari beim Betteln auf der Straße entdeckte. Sie, wie auch die meisten anderen Schauspieler, die allesamt Laien sind, wusste vor der Arbeit an „Osama“ noch nicht einmal, was ein Film ist. Jetzt gibt es wieder Kinos in ihrem Land, das Projekt „Mobile Cinema“ zieht über die Dörfer. Und die zwölfjährige erhielt als Lohn für ihre Arbeit an dem Film ein Haus – eines aus Stein, in das sie nun mit ihrer zwölfköpfigen Familie lebt.

Seit dem 15.01.2004 im Kino