KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
 Start  Reports  Themen  Texte  Zeitdokumente  Kritik  Veranstaltungen 
 Redaktion  Forum 
 Editorial  Impressum  Redaktion  Suche 
ReportKulturation 2015
Volker Gransow
Wissenschaftliche Capricen.
Zur Kulturgeschichte der Homosexualiät
Eine interessante Textsammlung zur Kulturgeschichte der Homosexualität
Rüdiger Lautmann (Hg.): Capricen. Momente schwuler Geschichte. Hamburg (Männerschwarm) 2014, 300 S.

Was ist „LSBT“ ? „Lettuce, Sandwich , Beans, Tomato“ (kalifornischer Salat)? Oder „Lesbisch, Schwul, Bi, Transsexuell“? Die Bezeichnungen für Geschlechterbeziehungen scheinen sich immer schneller zu verändern. Wenn derzeit „queer“ en vogue scheint, so drückt sich darin einerseits aus, dass nach wie vor ursprünglich pejorativ gemeinte sexuelle Etiketten von Betroffenen übernommen werden - wie etwa „schwul“ oder „gay“ seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. Der Kulturwissenschaftler und spätere Freud-Experte Peter Fröhlich konnte sich bei seiner US-Einbürgerung im Jahre 1946 noch „Peter Gay“ nennen, ohne dass sein Name mit Homosexualität assoziiert wurde.

Andererseits werden mit den Umetikettierungen auch sachliche Veränderungen gemeint. Zumindest teilweise sexuell definierte soziale Gruppen sind mit dem „labeling approach“ (Lüdderitz) nicht mehr zu fassen, weder „Devianz“ noch „Perversion“ reichen aus. Der Buch- und Filmerfolg „Fifty Shades of Grey“ ist eine sentimental-kitschige Story mit SadoMaso - Sauce, demonstriert aber gleichzeitig, dass ein von zunehmender Prüderie und Lustfeindlichkeit auch in Westeuropa und Nordamerika gelangweiltes Publikum stärker gewürzte kulturelle Kost möchte (1) . Neben solchem Schund wird auch eine erotisch akzentuierte intelligente Dystopie wie Houellebecqs „Soumission (Unterwerfung) “ breit rezipiert. Drittens schaffen die „queeren“ sozialen Bewegungen sich wie einst die Arbeiterbewegung ihre eigene Akademisierung. Neben Biologie, Soziologie, Philosophie, Psychologie , Politikwissenschaft, Sexuologie und Soziologie tritt zunehmend die Geschichtsforschung. Das illustriert die vorliegende (nicht so genannte) Festschrift zum 65. Geburtstag des Berliner Historikers Manfred Herzer . Ausgehend von den zahlreichen bahnbrechenden Arbeiten des in der oft „Zunft“ genannten Fachwelt eher unetablierten Gelehrten wird in dem von Rüdiger Lautmann ingeniös edierten Sammelband ein historisches Bild schwuler Geschichte gezeichnet, das von Raymond Pascal in Avignon (1365) über den homophoben General Karl von Einem (1835 bis 1934) bis hin zu Marsden Hartleys Deutschlandreisen immer neue Facetten des Begehrens aufdeckt.

Wichtig scheint dem Rezensenten auch die differenzierte Sicht auf Philipp Prinz von Eulenburg-Hertefeld und seinen „Liebenberger Tafelrunde“ oder „Liebenberger Kamarilla“ durch Norman Domeier. Dass Eulenburg wie Kaiser Wilhelm II. vermutlich bi-, homo- oder multisexuell war – das ist sattsam bekannt. Zuerst löste Maximilian Harden später breit dokumentierte Krisen und Skandale aus (vgl. Nikolaus Sombart: „Sündenbock und Herr der Mitte“ Berlin 1997). Die Akzentuierung der friedenspolitischen Seite durch Norman Domeier in „Capricen“ stellt aber einen anderen Kontext dar. Eulenburg, seine Tafelrunde und u.U. Durchlaucht höchstselbst liebten häufiger Männer – das ist wohl nicht so überraschend. Interessant ist hingegen, dass es vielleicht um eine Alternative zum deutschen Imperialismus ging, eine mögliche historische Weggabelung jenseits vom derzeitigen „Schlafwandel“- Bild (Clark), nämlich beim preussisch-deutschen „Griff nach der Weltmacht“ ( Fritz Fischer). Da ist ziemlicher Forschungsbedarf – man denke nur an den Nazi-Kronjuristen Carl Schmitt, sein bipolares Freund / Feind – Denken sowie seine Großmachtsphantasien. Zumindest für den Verfasser dieser Besprechung finden sich noch weitere Überraschungen. Kevin Dubout und Jens Dobler zeigen, dass nicht nur der zu Recht omnipräsente Magnus Hirschfeld und sein Wissenschaftlich - Humanitäres Komitee eine unmittelbare Vorgeschichte von 1894 bis 1897 hatten und sich Parallelen zu Hirschfeld in Reinhold Gerlings Zeitschrift „Das Geschlecht“ finden lassen.

James D. Steakley liefert eine aufschlussreiche Analyse von „kommunistischen Kraftkerlen und schwulen Zombies“, also dem marxistisch-leninistischen Männlichkeitswahn in der US-amerikanischen Kommunistischen Partei der frühen 1930er Jahre. Siegfried Tornow bietet fundierte Informationen über orientalische Gelassenheit und europäische Moderne, die bei allem Respekt vor Houellebequs Islamskepsis das heute oft zutreffende Bild vom schwulenfeindlichen Orient historisch korrigieren. So wird kulturhistorisch mit manchem Vorurteil kritisch umgegangen und der Horizont von Leserinnen und Lesern erweitert. Es sei hier aus der Vielzahl der von Rüdiger Lautmann edierten Beiträge nur noch der Essay von Marita Keilson-Lauritz über Hans-Dietrich Hellbach und die Freundesliebe im 18. Jahrhundert erwähnt.

Aus der Ferne erscheinen die Alpen bekanntlich blau, Bergsteiger sehen das anders. Die Lautmannsche Kollektion belegt nicht nur die Vorteile genauer kulturhistorischer Recherche, sondern auch den kulturellen Wandel, der diesen Forschungen erst Resonanz verleiht. Es geht nicht nur um neue Sichtweisen auf Avignon oder Eulenburg, sondern auch um Veränderungen der derzeitigen Gesellschaft. „Geschlechter – wenn ĂĽberhaupt – wie viele?“ fragt Lautmann (vgl. „Soziologische Revue“ Nr.2 /2014). Das bipolare Geschlechterbild (2) kommt wissenschaftlich wie politisch ins Wanken – das zeigt sich auch an politisch – rechtlichen Fragen wie Adoption oder Insemination.

Anmerkungen

(1) Vgl. Horst Groschopp: Anstiftung zum Vanillasex. In: „Humanistischer Pressedienst“ vom 19. Februar 2015.

(2) Eine prononciert andere Meinung vertritt etwa Ferdinand Fellmann: Sexuelle Vielfalt und die Polarität der Geschlechter. In: „Sexuologie“, Nr.3-4/2014.