KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
 Start  Reports  Themen  Texte  Zeitdokumente  Kritik  Veranstaltungen 
 Redaktion  Forum 
 Editorial  Impressum  Redaktion  Suche 
ReportKulturation 
Kaspar Maase
Popkultur - vom kulturellen Rand zum kulturellen Mainstream?
Kulturpolitisches Kolloquium Loccum
Popkultur war Thema auf dem 60. Loccumer Kulturpolitischen Kolloquium. An drei Tagen (20. bis 22. Februar 2015) ging es da spezieller um "Kulturpolitik fĂŒr die Popkultur". Der TĂŒbinger Kulturwissenschaftler Kaspar Maase war eingeladen, zum Auftakt GrundsĂ€tzliches ĂŒber die Bedeutung der Popkultur "fĂŒr die Gegenwartsgesellschaft und die Aufgaben der Kulturpolitik" zu sagen. Seit mehr als vier Jahrzehnten[1] hat Kaspar Maase die Wandlungen der PopulĂ€rkultur wissenschaftlich beobachtet und in seinen Publikationen dokumentiert, wie Popkultur zum Gegenmodell fĂŒr den alten Hochkultur-Kanon wurde und sich zunehmend als die Hoch- und Bildungskultur der Postmoderne versteht - die kreative Impulse aus der "Hochkultur wie aus dem Mainstream der PopulĂ€rkultur aufnimmt. Wer sich in diesem Felde kulturpolitisch positionieren will, sollte auf die Publikationen von Maase zurĂŒckgreifen[2]. Die Druckfassung seines Beitrags auf dem Loccumer Kolloqium wird im MĂ€rz in den "Kulturpolitischen Mitteilungen" Nr. 148, I/2015 erscheinen - zusammen mit einem ausfĂŒhrlichen Tagungsbericht.


„Kulturpolitik fĂŒr die Popkultur“ – aber welche Popkultur?
Ein PlĂ€doyer fĂŒr den Mainstream

I.

Im letzten Halbjahrhundert ist kommerziell PopulĂ€res auf neue Weise in die Mitte der Kultur gerĂŒckt – gemessen an der Zeit, die wir damit verbringen, gemessen an der Bedeutung fĂŒr individuelle Selbstbildung, gemessen an Umsatz und BeschĂ€ftigung, gemessen an der Aufmerksamkeit, die Wissenschaft und Premium-Feuilletons dem widmen, gemessen an der Bedeutung als Ressource kĂŒnstlerischer Innovation, gemessen schließlich an dem, was man gesellschaftliche Anerkennung nennen mag.

Zum VerstĂ€ndnis der VerĂ€nderungen zunĂ€chst ein Blick zurĂŒck ins 19. Jahrhundert, weil da der Aufstieg moderner PopulĂ€rkultur begann. Und weil wir dort sehen, dass ein verbreitetes Denkmuster – der guten, anspruchsvollen Hochkultur steht eine zweifelhafte Massenkultur gegenĂŒber – schon damals zu schlicht war.

Die tonangebenden Deutschen, die BĂŒrger, zogen nĂ€mlich seit dem 19. Jahrhundert eine strikte Grenzlinie zwischen dem harmlosen und dem gefĂ€hrlichen PopulĂ€ren, zwischen legitimer und illegitimer VergnĂŒgung. Unverkennbar zog man diese Grenze im Alltag, mit der Entscheidung fĂŒr und gegen konkrete Kulturangebote. Man hatte Goethe, Schiller, BĂŒchmanns Zitatenschatz reprĂ€sentativ im BĂŒcherschrank; doch praktisch prĂ€ferierten auch die Oberschichten und die BĂŒrger, mit Ausnahme einer kleinen Minderheit von BildungsbĂŒrgern, das Reizvolle, EingĂ€ngige, SpektakulĂ€re, sinnlich ÜberwĂ€ltigende. So unterschied man um 1900 „AmĂŒsement“ und „gepflegte Unterhaltung“ (die eigene VergnĂŒgung also) von „Schund“ und „Afterkunst“ (dem VergnĂŒgen der anderen, der Arbeiter und KleinbĂŒrger). Hier Operette und Musiktheater, Revue und VarietĂ©, Conan Doyle und Fortsetzungsromane – dort Gassenhauer und Groschenhefte, billiger Kintopp und WitzblĂ€tter.

In den folgenden Jahrzehnten Ă€nderten sich Genres und Etiketten, nicht aber die grundsĂ€tzliche Zweiteilung des PopulĂ€ren. In der jungen, restaurativ orientierten Bundesrepublik bekĂ€mpfte man „Schund“, „Kitsch“, Comics, „Gangsterfilme“ mit Eifer; antiamerikanische und antikommerzielle Argumente verdichteten sich zum Feindbild der „Massenkultur“. Andererseits bezog man in die „gute Unterhaltung“ Richtungen des Jazz ein und erteilte dem neuen Fernsehen programmatisch einen Bildungsauftrag. Was zur guten, sauberen und was zur gefĂ€hrlich schmutzigen Unterhaltung gehören sollte, war in EinzelfĂ€llen umstritten. Dass es sich jedoch grundsĂ€tzlich um eine sinnvolle Unterscheidung handelte, blieb weithin Konsens.

II.
Diese Selbstgewissheit produzierte seit den spĂ€ten 1950ern durchaus ungewollte Effekte. Damals begann in ganz Westeuropa eine Entwicklung, die das tradierte Dreiebenenmodell – Hochkultur / anerkannte und gute Unterhaltung / problematische Massen- und Trivialkultur – erschĂŒtterte: Es begann der Siegeszug der Popkultur auch und gerade in der bĂŒrgerlichen Jugend.

Womit zog diese Popkultur die Kinder der gebildeten Mittelschicht so unwiderstehlich an? Es begann mit dem Rock’n’Roll, der seit 1956 Deutschland polarisierte. Halbstarke Arbeiterjugendliche forderten mit Bill Haley und wilden TĂ€nzen die restaurative Ordnung heraus und verlangten mehr amerikanischen Fortschritt; die Öffentlichkeit debattierte ĂŒber den – so zeitgenössische Headlines – „Terror der Halbstarken“. Im Windschatten der Aufregung ĂŒber die Unterschichten begannen sich Jungs und MĂ€dchen auf den Gymnasien ĂŒber das empowerment zu verstĂ€ndigen, das dem harten, direkten Sound abzugewinnen war: ĂŒber seine rebellische Kraft gegen die spießig-autoritĂ€re Welt der Alten und gegen eine Kultur, die ihnen als wahr, gut und schön aufgenötigt wurde und sie nach eigenem Empfinden daran hinderte, ihre Jugend zu genießen.

Das wurde dann mit der Beatlemania zur öffentlichen Protestbewegung. Rockmusik erlebte seit der Mitte der 1960er eine KreativitĂ€tsexplosion; sie wurde anschlussfĂ€hig an musikalische und performative Avantgarden einerseits, an traditionelle Musizierweisen und Institutionen andererseits („Symphonic Rock“). Zunehmend selbstbewusste KlangkĂŒnstler erhoben Rockmusik zum Medium der Ausbruchs- und AlternativsehnsĂŒchte der Mittelschichtjugend; Rock wurde Kraftzentrum einer weltweiten Gegenkultur. Und diese Gegenkultur konnte – wie vorher nur die Klassik – das Wahre, Gute und Schöne in einer entfremdeten Welt zum Gegenstand ĂŒberwĂ€ltigender sinnlicher Erfahrung machen.

Kurzum: Pop forderte den alten Hochkultur-Kanon auf Augenhöhe heraus. Pop prĂ€gte Erfahrungen, GefĂŒhle, Bildungsprozesse einer Generation heranwachsender Eliten, nicht zuletzt kultureller Eliten. Und trotz aller Erfolge beim Weg ins kulturelle Zentrum blieben im Pop-Kontext „oppositionelle Modelle fĂŒr das VerhĂ€ltnis 
 zum Ganzen der Gesellschaft als Selbstbeschreibung dominant“ (Diedrich Diederichsen). Pop war alternativ, nicht konform, und verstand sich zunehmend als die bessere Hoch- und Bildungskultur der Postmoderne. Das heißt: In der Gegenwart gibt es zwei Varianten von Hochkultur: neben der traditionellen jetzt auch eine popmoderne.

Allerdings: Popkulturelles Urteil muss sich deutlich abheben vom Mainstreamgeschmack der Vielen; am populĂ€ren Material sind Anspruch, OriginalitĂ€t und TiefgrĂŒndigkeit des eigenen Stils zu demonstrieren. Mein Lieblingsbeispiel dafĂŒr ist die wirklich witzige Besprechung einer Lindenstraßen-Folge schon vor vielen Jahren, die sich spielerisch der Luhmannschen Systemtheorie bedient – geschrieben bereits 1992 mit der Edelfeder von Gustav Seibt.

Pop hat traditionelle Bildungskompetenz mit subkulturellen und avantgardistischen Elementen aus der PopulĂ€rkultur zu einem zeitgemĂ€ĂŸen Hybrid zusammengefĂŒhrt. Oberste Regel dabei: Auf keinen Fall Mainstream! Weder verstaubte, pathosverklebte Klassik noch Hits aus dem Dudelfunk oder gehobenes Entertainment bei Schampus und HĂ€ppchen. Diese Entwicklung hat das Dreiebenenmodell aus Hochkulturkanon, guter Unterhaltung und trivialer Massenkultur endgĂŒltig aufgelöst.

Ich will die Knackpunkte noch einmal herausheben. Die Proportionen von „ernster, bildender Hochkultur“ einerseits – populĂ€rer, unterhaltender Kultur andererseits haben sich hierzulande seit dem frĂŒhen 20. Jahrhundert nicht grundlegend geĂ€ndert. Mit Ausnahme der Bildungsschichten schĂ€tzen und nutzen die Deutschen ĂŒberwiegend oder einzig PopulĂ€rkultur; so betrachtet, bildet sie das Zentrum deutscher Kultur. Das ist also nicht neu. Massiv gewandelt hat sich die Bewertung des Sachverhalts. Die Stigmatisierung des populĂ€ren Mainstreams ist einer Mischung von Sorge und VerstĂ€ndnis gewichen, und Kenntnisse des PopulĂ€ren können zum kulturellen Kapital beitragen. Popkultur im beschriebenen Sinn ist sogar zum elitĂ€ren Kulturmuster avanciert.

III.
Die kulturelle Landschaft ist also mĂ€chtig in Bewegung, Abgrenzungen verschwimmen und werden stĂ€ndig neu gezogen. In dieser Situation formuliert „Kulturpolitik fĂŒr die Popkultur“ viele Fragen, aber noch kein konsistentes Programm. Denn es stehen ganz unterschiedliche Vorstellungen von Pop im Raum.

Um ein wenig Ordnung in die Debatte zu bringen, greife ich einen Vorschlag des Kulturwissenschaftlers Marcus S. Kleiner auf. Er sieht hierzulande vereinfachend, aber durchaus hilfreich, zwei Lesarten von Pop; sie bilden zwei Seiten einer Medaille. Einerseits Pop als Medium der Rebellion und des Widerstandes, als „Einspruch gegen die Ordnungs- und Ausschlusssysteme der Dominanzkultur“; dies gilt als authentisch und kulturell anspruchsvoll. Das Gegenbild ist Pop als Konsum, minderwertig, affirmativ, Mainstream. „Pop als Rebellion wird zumeist der Status autonomer, widerstĂ€ndiger, inkommensurabler Kunst im hochkulturellen VerstĂ€ndnis zugeschrieben, Pop als Konsum unterliegt dem Verdacht kulturindustrieller Standardisierung und Instrumentalisierung.“

Das ist freilich analytisch zugespitzt. Aktuelle Kommentare klingen lĂ€ngst nicht so eindeutig; förderungswĂŒrdiger Pop wird meist nur vage bestimmt. Nehmen wir die Versuche des Deutschen Kulturrates, PopulĂ€re Kultur in die „Mitte der Kulturpolitik“ zu rĂŒcken. Der Bereich entziehe sich jeder eindeutigen Zuordnung, heißt es. Er umfasse „das leicht Konsumierbare, den Hit“ ebenso wie „moderne Kunstformen“ als „bewusste Abkehr vom Mainstream“. Kunst, Kitsch und Markt lĂ€gen nahe beieinander, das mache die „Ambivalenz PopulĂ€rer Kultur“ aus (Olaf Zimmermann). Offenbar gibt es Bereiche des PopulĂ€ren, mit denen sich die Kulturförderung unwohl fĂŒhlt – vermutlich das, was als anspruchslos gilt. Denn negative und auch aggressive Lesarten von Massenkultur als Schund und Massenbetrug sind hierzulande durchaus noch lebendig. Da geht es nicht um Förderung, sondern um EindĂ€mmung, Überwindung oder zumindest Verdammung.

IV.
Es ist diese Tendenz zur Abwertung des Mainstreams, die mir Bauchschmerzen macht. Gar nicht so sehr, wenn konkrete Genres, Formate, Werke kritisiert und als ekelhaft oder menschenverachtend angeprangert werden. DarĂŒber kann und muss man in der Sache diskutieren, und nicht selten kann man die Urteile nachvollziehen. Schwierig wird es, wenn man bei Kritikern und Politikern auf einen schweigenden Konsens trifft, wonach große Bereiche der Massenkultur fraglos kulturell wertlos seien. Dass zig Millionen Deutsche solche Angebote lieben, spielt da keine Rolle. Wer meint, man sollte den Mainstream doch mal mit den Augen seiner Nutzer anschauen, lĂ€uft gegen GummiwĂ€nde.

Solche unsichtbaren WĂ€nde sehe ich auch in der Debatte um Kulturpolitik fĂŒr die Popkultur. Da gibt es vor allem zwei Referenzsysteme: Ökonomie und Ästhetik. Als unterstĂŒtzenswert gilt, was zukĂŒnftigen Markterfolg und/oder kĂŒnstlerische QualitĂ€t verspricht. Und „Unterschichtfernsehen“ (um das ressentimentgeladene Schlagwort beispielhaft aufzugreifen) ist hier einfach kein Thema. „Ist es denn nicht schlimm genug, dass es all diesen Schund und Schrott von der Stange auf dem Markt gibt, zugĂ€nglich fĂŒr jedermann? Welchen Grund sollte es geben, hier ĂŒber Kulturförderung auch nur nachzudenken?“

Ich wĂŒsste einen. Dazu muss man allerdings aufhören, den eigenen Geschmack fĂŒr allgemeinverbindlich zu halten. Dann fiele nĂ€mlich die Tatsache ins Gewicht, dass die Mehrheit unserer MitbĂŒrger ihre Ă€sthetischen Erfahrungen im Wesentlichen mit Mainstream-Material macht; also vereinfacht: nicht im Kulturbetrieb, sondern in Fernsehen, Internet, Musikradio – mit (Entschuldigung fĂŒr die Beispiele, die stets unfair klingen) Helene Fischer und Daily Soaps, Discopop und Gangstarap, Sitcoms und Actionkino, lokalem Popmusikradio und Liebesromanen im Taschenheft, Youtubeformaten und Bildern aus dem Postershop. Dieses Publikum empfindet den Hunger nach Schönheit nicht weniger stark als Opernabonnenten, Vernissagebesucher und Spex-Leser. Es greift allerdings nach einem anderen Repertoire, um Ă€sthetisches VergnĂŒgen und Ă€sthetische Erkenntnis zu erleben.

Diese MitbĂŒrger greifen nach hoch professionell gemachten MassenkĂŒnsten, zugeschnitten auf Alltagsstruktur, Erfahrungen und TrĂ€ume von Menschen, fĂŒr die ein gutes Leben eine recht anstrengende Aufgabe darstellt. An solchem Material bildet die Mehrheit ihre Ă€sthetischen Erwartungen, Vergleichsmöglichkeiten, Genussweisen und Reflexionsmodi. Ich spreche von MassenkĂŒnsten, weil bei allen Unterschieden das Erleben von Blues und Beethoven, Discotanz und Opernball, Blockbuster und Entwicklungsroman, Vermeer-Reproduktion und Kaufhausbild doch in dieselbe Richtung weist: Man sucht intensive Erfahrung und tieferes VerstĂ€ndnis des eigenen Selbst und der Welt, in der dieses Ich sich bewegt; man sucht Empfindungen, sinnlich-körperliche Sensationen, Einsichten und die GlĂŒcksgefĂŒhle, die Schönheit und Erhabenheit vermitteln können.

Ich sprach etwas vollmundig von einer kopernikanischen Wende. Was ist gemeint? Wir denken Kulturpolitik und Kulturförderung angebotsorientiert, von der Produktionsseite her: Man fördert KĂŒnstlerInnen und Institutionen, die qualitĂ€tvolle Werke anbieten und verbreiten. Nutzer kommen ins Bild als diejenigen, die indirekt von Kulturförderung profitieren – aber sie stehen nicht am Ausgangspunkt der Überlegungen. Deswegen gelten Kulturindustrien, die erfolgreich fĂŒr ein Massenpublikum produzieren und damit ordentlich Geld verdienen, als Bereich, um den man sich nicht zu kĂŒmmern braucht.
Das stellt sich anders dar, wenn wir vom Anspruch aller BĂŒrger auf Ă€sthetischen Genuss und kulturelle Entfaltung ausgehen. „Anspruch“ meint kein abstrakte Chance nach dem Muster „Jeder Deutsche hat die Chance, MillionĂ€r zu werden“. Sondern eine nĂŒchterne und vorurteilslose PrĂŒfung, welche Möglichkeiten zur Teilhabe die Mehrheit wirklich nutzt: eben Mainstream und Massenware. Diesen Menschen sollten wir nicht mit Rilke empfehlen: Du musst Dein Leben Ă€ndern! Wechsle zu ARD und ZDF, geh ins Programmkino, in den Jazzclub oder zur Volkshochschule, folge der Bestenliste des SWR, besuch mal unsere EinfĂŒhrung im Museum fĂŒr Moderne Kunst.

Was ansteht, ist ein veritabler Paradigmenwechsel (ich spitze jetzt frech zu): Weg von einer kulturellen Bildung, die vor allem schĂŒtzen und imprĂ€gnieren will gegen Massenkultur, gegen vermutete VerfĂŒhrung, Verdummung und Vernichtung Ă€sthetischer SensibilitĂ€t – hin zu Programmen, die reicheres VergnĂŒgen und menschliches Gedeihen aus dem Umgang mit Mainstream-KĂŒnsten zum Ziel haben. Auf deren Spielregeln und QualitĂ€tsmaßstĂ€be sollten Experten und Verantwortliche sich einlassen, Erfahrungen und Kenntnisse von Fans und Publika ernst nehmen und ĂŒberlegen, wie realistische Chancen zur Qualifizierung dieser Kenntnisse und Kompetenzen eröffnet werden können.

V.
Abschließend noch etwas konkreter zu möglichen Ansatzpunkten. Sie haben gemerkt, ich spreche ohne Bedenken von MassenkĂŒnsten und Ă€sthetischen Erfahrungen ihrer Rezipienten. Damit will ich auch sagen: Die Produzenten dieser Angebote sind KĂŒnstler wie alle anderen, denen wir diesen respektheischenden Titel zugestehen, und sie haben, wir haben Anspruch auf eine Kritik, die ihrer Arbeit gerecht wird. Es sind nun mal KĂŒnste eigener Art, sehr anders als der Bereich der etablierten Musen. Sie mĂŒssen sich im Alltag behaupten, und sie mĂŒssen der Unterhaltung von Menschen dienen, die keine Experten, keine Profis, keine hochgebildeten Connaisseurs des entsprechenden Genres sind, sondern interessierte (manchmal ĂŒberwĂ€ltigend kenntnisreiche) Laien, die sich vergnĂŒgen wollen. Sie vergnĂŒgen sich mit allem, was sie angeht, sie berĂŒhrt, was in ihren LebensverhĂ€ltnissen zu Genuss und VerstĂ€ndnis der Welt, der Menschen beitrĂ€gt – und nicht zuletzt zu Erfahrung und VerstĂ€ndnis des eigenen Selbst in der Welt.

Wo wird bei uns gelehrt, dem Massenpublikum entsprechende Ă€sthetische Angebote zu machen? Einen Fernsehfilm fĂŒr die Primetime zu entwickeln, dem die Zuschauer wegen seiner Figuren, Bilder, KlĂ€nge bis an die Grenzen gewohnter Sicht- und Empfindungsweisen folgen, ohne wegzuzappen, ist gewiss nicht leichter, als einen Roman zu schreiben, der in gehobenen Feuilletons und Kulturmagazinen besprochen wird und ein paar Tausend bildungswillige, anstrengungsbereite Leser findet. Auf jeden Fall ist es seltener. Jede amerikanische Hochschule hat ihre Kurse fĂŒr creative writing – und wir? Wo wird ernsthaft untersucht und gelehrt, was die besten Arbeitsformen in populĂ€ren Genres sind? Das Unterhaltungsgewerbe ist arbeitsteilig und inzwischen hoch spezialisiert. Die tollen amerikanischen und nordischen Serien hĂ€ngen untrennbar zusammen mit der Etablierung von showrunner und writer’s room, der strukturierten Kooperation vieler kreativer Köpfe an Konzept und Drehbuch; jetzt hechelt man hierzulande hinterher. Schließlich ist auch politisch zu ĂŒberlegen, wie man die Position der Kreativen im KulturgeschĂ€ft gegenĂŒber Kaufleuten und Marketingmanagern stĂ€rkt.

Ebenso ist zu klĂ€ren, wo Förderung ansetzt: beim KĂŒnstler, beim Werk, bei den Nutzern oder – ein selten gehörter Gedanke – bei den Akteuren der Kritik, die ganz wesentlich zu QualitĂ€tsdebatten und QualitĂ€tssteigerung beitrĂ€gt? Bereitschaft zu und Freude an Innovation, Vielfalt, ernstem Spiel sind jedenfalls nicht allein bei den Anbietern zu fördern, sondern auch im Massenpublikum. Momentan wird vielerorts ĂŒber audience development debattiert. Wir sollten dabei allerdings nicht von bestehenden Kultureinrichtungen ausgehen, sondern vom Massenpublikum, und fragen, wie es seine bestehenden WĂŒnsche und Kompetenzen reicher entwickeln könnte.

Wir haben ein entfaltetes Instrumentarium kultureller und Ă€sthetischer Bildung, doch es wird fast ausschließlich zur Vermittlung „ernsthafter, anspruchsvoller“ Werke genutzt. Wenn in diesem Kontext Mainstream auftaucht, dann als abschreckendes Beispiel. Dabei wĂ€re es ein Leichtes, im Austausch mit Genreliebhabern zu thematisieren, was gut gemachte von weniger gut gemachter Action, SF oder Sitcom unterscheidet; oder SchĂŒlerInnen mit Game Designern diskutieren zu lassen, was fĂŒr Computerspiele sie gerne entwickeln wĂŒrden. Usw. In einem Satz: Kulturpolitik fĂŒr die Popkultur heißt meines Erachtens, den real existierenden Mainstream, sein Publikum und deren gemeinsame Potenziale Ă€sthetisch wirklich ernst nehmen.

Benutzte Literatur
Diedrich Diederichsen: Über Popmusik. Köln 2014.
Marcus S. Kleiner: Popkultur und Mainstream, in: Politik & Kultur 6/2013, S. 17-18.
Roland PrĂŒgel (Hg.): Geburt der Massenkultur. NĂŒrnberg 2014.
Gustav Seibt: Allegorien am Abend. Zur Lesbarkeit der ‚Lindenstraße‘. FAZ, 20. 10. 1992.
Olaf Zimmermann: Spiel doch mit den Schmuddelkindern, sing doch ihre Lieder. Zur Ambivalenz PopulÀrer Kultur, in: Politik & Kultur 6/2013, S. 15.

Anmerkungen
[1] Erster Aufsatz zum Thema: Kaspar Maase, Massenkultur und Demokratisierung. Kommunale Kulturpolitik in der Auseinandersetzung, in: tendenzen 15 (1974), Nr. 95, S. 42-49
[2] Hier eine Aufstellung der von Kaspar Maase zum Thema publizierten BĂŒcher.

BRAVO Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fĂŒnfziger Jahren, Hamburg 1992.
Grenzenloses VergnĂŒgen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970, Frankfurt a. M. 4. Aufl. 2007.
Was macht PopulÀrkultur Politisch? Wiesbaden 2010.
Das Recht der Gewöhnlichkeit. Über populĂ€re Kultur, TĂŒbingen 2011.
Die Kinder der Massenkultur. Kontroversen um Schmutz und Schund seit dem Kaiserreich, Frankfurt a. M./New York 2012.

Kaspar Maase ist Mitautor und Herausgeber von:
Schund und Schönheit. PopulÀre Kultur um 1900, Köln, Weimar, Wien 2001 (mit Wolfgang Kaschuba).
Die Schönheiten des PopulĂ€ren. Ästhetische Erfahrung der Gegenwart. Frankfurt a. M./New York 2008.
Unterhaltung und VergnĂŒgung. BeitrĂ€ge der EuropĂ€ischen Ethnologie zur PopulĂ€rkulturforschung, WĂŒrzburg 2013 (mit Christoph Bareither u. Mirjam Nast).
Macher, Medien, Publika. BeitrĂ€ge der europĂ€ischen Ethnologie zu Geschmack und VergnĂŒgen, WĂŒrzburg 2014 (mit Christoph Bareither, Brigitte Frizzoni u. Mirjam Nast).
Kaspar Maase: Grenzenloses VergnĂŒgen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970. 4. Aufl. Frankfurt/M. 2007.

Eine annÀhernd vollstÀndige Publikationsliste findet sich unter:
http://www.wiso.uni-tuebingen.de/faecher/empirische-kulturwissenschaft/institut/mitarbeiterinnen/emeriti-und-ehemalige/kaspar-maase.html